42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
nicht übelnehmen, wenn wir ihn jetzt in seiner Ruhe stören?“
„Nein.“
Sie fanden die Wohnung des Lieutenants unverschlossen und leer. In dem Schlafzimmer war das Bett noch unberührt, und verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, daß, wenn auch nicht ein Kampf hier stattgefunden hatte, sich doch etwas Ungewöhnliches ereignet haben müsse. Ein Stück starke Schnur lag am Boden, es schien das Ende einer alten Logleine zu sein, wie man sie braucht, um auszumessen, mit welcher Schnelligkeit ein Schiff segelt. Die Kopfbedeckung, welche der Lieutenant am gestrigen Abend getragen hatte, war vorhanden, aber sie lag auf der Diele.
Jetzt schien es dem Arzt als gewiß, daß Señor de Lautreville etwas zugestoßen sei. Er erkundigte sich im Schloß sehr genau und erfuhr, daß ihn heute noch niemand gesehen hatte. Kurz entschlossen, begab er sich in die Wohnung Cortejos. Er ließ sich nicht anmelden, sondern trat nach kurzem Klopfen sogleich ein. Der Sachwalter war beschäftigt, seine Morgenzigarette zu rauchen; er schien sehr erstaunt über den frühen Besuch zu sein und fragte, als ein kurzer Gruß gewechselt war:
„Ah, Señor Sternau! Womit kann ich Ihnen dienen?“
„Mit einer Auskunft, die ich mir erbitten möchte“, antwortete der Gefragte.
„So redet; aber macht es kurz! Ich bin nicht gewohnt, mich zu einer so ungewöhnlichen Stunde stören zu lassen.“
Er sagte diese Worte in strengem Ton und mit einer Miene, welche kaum feindseliger sein konnte. Sternau ließ sich dadurch keineswegs beirren; er trat hart an den Sachwalter heran, faßte denselben scharf und fest in die Augen und sagte:
„Ich werde gewiß nicht weitschweifig sein, Señor, sobald Eure Antwort so kurz und aufrichtig ist wie meine Frage: Wo ist Lieutenant de Lautreville?“
Diese Frage hatte der Sachwalter nicht erwartet. Er erbleichte sichtlich, und es dauerte eine Zeit, ehe er sich zusammenraffte. Dann jedoch meinte er mit desto größerem Nachdruck:
„Señor Sternau, ich glaube, Ihr seid in ein unrechtes Zimmer gekommen. Was geht mich dieser Lautreville an!“
„Jedenfalls ebensoviel als jeden anderen Bewohner Rodrigandas. Der Lieutenant ist nämlich verschwunden und nicht aufzufinden.“
„Ah! Verschwunden? So sucht ihn, Señor. Wenn er sich wirklich empfohlen hat, so wundere ich mich nicht darüber. Ich habe ihn sogleich für einen Abenteurer gehalten“, lautete die Antwort, welche in einem höhnischen Ton gegeben wurde.
„Pah, es gibt hier andere Abenteurer als den Lieutenant“, antwortete Sternau ruhig. „Wer waren die Männer, mit denen Ihr den Verschwundenen überfallen und nach dem Wagen geschafft habt, welcher an der Grenze des Parks wartete?“
Wäre ein Blitz vor ihm niedergefahren, so hätte der Sachwalter nicht mehr erschrecken können als jetzt bei dieser Frage. Er hatte geglaubt, daß alles vollständig unbemerkt geschehen sei, und mußte nach der Frage Sternaus doch vermuten, daß es einen Lauscher gegeben habe. Er zuckte erschreckt zusammen und griff mit der Hand nach der Lehne des neben ihm stehenden Stuhles, um sich auf dieselbe zu stützen. Im nächsten Augenblick aber dachte er daran, daß man doch jedenfalls versucht haben würde, die Tat zu verhindern; dies war nicht geschehen, folglich hatte es keinen Beobachter gegeben, und die Frage Sternaus gründete sich jedenfalls auf eine bloße Vermutung, deren Veranlassung wohl noch zu erfahren war. Dies gab dem Advokaten seine Fassung wieder, und er antwortete mit möglichster Kaltblütigkeit:
„Seid Ihr verrückt, Señor, oder wandelt Ihr mondsüchtig am hellichten Tag? Macht Euch von dannen, sonst helfe ich mir, wie ich kann!“
Sternau lächelte bei dieser Drohung und antwortete:
„Señor Cortejo, wir wollen aufrichtig sein. Bereits seit ich Euch zum erstenmal sah, habe ich Euch unendlich liebgewonnen. Ich habe Euch daher im stillen beobachtet und bin zu der Überzeugung gekommen, daß Ihr diese Liebe vollständig verdient. Ich will Euch mit derselben jetzt nicht länger beschwerlich fallen, besonders da es nur meine Absicht war, Euch zu zeigen, daß ich Euren wirklichen Wert erkenne, wenn jedoch meine Liebe zu Euch zu groß werden sollte, daß ich mich nicht mehr beherrschen kann, dann nehmt es mir nicht übel, wenn ich Euch vor lauter Zuneigung umarme – erdrücke. Bei Gott, Señor!“
Nach einer kurzen und ironischen Verneigung verließ er das Zimmer.
Der Advokat blieb in einer sehr unangenehmen Stimmung zurück.
„Was war das?“ fragte
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