42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
dem Dorf zurückkehrte, trat er in das Zimmer, welches ihm als Wohnraum diente, und machte Licht. Er riegelte die Tür zu, welche zu dem Korridor führte, und trat dann in das Schlafzimmer, um sich seiner Oberkleider zu entledigen. Kaum jedoch hatte er den ersten Schritt in den dunklen Raum getan, so erhielt er einen Faustschlag an die Schläfe und dann einen ebenso wohlgezielten zweiten, daß er die Besinnung verlor, ehe er einen Laut auszustoßen vermochte.
„Holt das Licht heraus“, gebot der Kapitän. „Wir wollen uns den Burschen einmal ansehen.“
Das Licht wurde gebracht. Man leuchtete ihn an.
„Ah, ein feiner Bursche!“ meinte Henrico Landola. „Hm, er sieht irgendeinem ähnlich, den ich kenne. Werde es mir wohl noch aussinnen. Gebt ihm einen Knebel; wickelt ihn in das Segeltuch und bindet dann die Taue fest, daß es ein hübsches, steifes und ruhiges Bündel ist, mit dem wir keine Not haben.“
Das Licht wurde ausgelöscht, und noch war nicht lange Zeit seitdem vergangen, als es leise an die vordere Tür klopfte. Es wurde geöffnet, und der Notar kam hereingehuscht.
„Habt ihr ihn?“ fragte er.
„Ja.“
„Hat er sich gewehrt?“
„Pah! Das werden wir uns verbitten! Eine Seemannshand weiß gut zu treffen.“
„Er ist wohl noch ohne Besinnung?“
„Das wird sich finden. Kann es fortgehen? Draußen ist es geheurer als hier.“
„So kommt!“
Er führte sie auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und sie erreichten den Wagen, ohne von irgendeinem Menschen bemerkt worden zu sein. Zwei Männer hatten den Geraubten bis hierher getragen. Er wurde von ihnen zunächst auf die Erde geworfen. Der Advokat zog eine Blendlaterne hervor, welche er ansteckte. Er konnte es sich nicht versagen, sein Opfer noch einmal anzusehen und ihm ein peinigendes Wort mit auf den Weg zu geben.
Das Licht der Laterne fiel auf das Gesicht des Gefangenen. Er hatte die Augen offen.
„Ah, Bursche, du bist munter“, grinste der Notar ihn an. „Deine Rechnung mit Rodriganda ist gemacht. Du wirst keinem Menschen mehr schaden. Lebe wohl und vergiß mich nicht!“
Er schlug dem Wehrlosen mit der geballten Faust einige Male in das Gesicht und gab dann das Zeichen, ihn in den Wagen zu heben. Während dies geschah, wurde er von dem Kapitän auf die Seite genommen und gefragt:
„Also wie, Señor? Soll er sterben oder –“
„Hm, tot ist am besten!“
„Dann verliere ich aber ein Bedeutendes!“
„So schreibt Euch zweihundert Duros mehr auf Euer Konto.“
„Das ist etwas anderes! Für diesen Preis kann man es machen. Da sind die Jungens ja fertig. Gute Nacht, Señor! Ihr laßt Euch doch noch sehen, ehe ich in See steche?“
„Einmal noch, ja.“
„Adieu!“
„Adieu!“
Der Wagen rasselte davon, und der Advokat kehrte nach Rodriganda zurück.
Er nahm dorthin nun die feste Überzeugung mit, daß sein Spiel jetzt gar nicht mehr zu verlieren sei. – – –
Am anderen Morgen hatte sich Miß Amy Lindsay bereits zu einer sehr frühen Stunde erhoben. Oft hat das Glück ganz dieselbe Wirkung auf die Nachtruhe wie das Unglück; es verscheucht den Schlaf. Es trieb sie, hinauszugehen in den kühlen, taufrischen Morgen. Als sie aus ihrem Zimmer trat, sah sie Frau Elvira von oben kommen, ein Körbchen am Arm. Sie grüßte mit einem tiefen Knicks, und Amy dankte ihr auf das freundlichste.
„Wie es scheint, ist unsere gute Señora Elvira schon sehr in Geschäften“, sagte sie.
„Jawohl, meine verehrte Doña Amy Lady“, antwortete die Kastellanin, die von ihrem guten Alimpo gelernt haben mochte, die spanische Titulatur mit der englischen zu vereinigen. „Ich habe nämlich einen großen Fehler auszugleichen.“
„Darf man ihn kennenlernen?“
„Warum nicht! Denkt Euch, Doña Lindsay Miß, wir haben gestern überall Blumen und Kränze gehabt, und gerade dem, der den Tag zum Fest machte, dem hat man nicht eine einzige Blüte auf sein Zimmer gestellt. Das ist höchst undankbar! Das sagt mein Alimpo auch.“
„Ah, Sie meinen Señor Sternau?“
„Ja, ihn und keinen anderen. Denkt Euch, Miß Lady, daß er den gnädigen Grafen nicht nur sehend gemacht, sondern auch von einer sehr lebensgefährlichen Krankheit geheilt hat. Man muß ihm sehr dankbar sein. Darum sagte Doña Rosa, ich solle heute früh für Rosen sorgen.“
„Er hat bisher bei Don Emanuel stets gewacht?“
„Ja. Es scheint, er traut gewissen Leuten zu, daß sie die Heilung des gnädigen Grafen verhindern wollen. Er ist ein sehr
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