42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
mich, für den Kastellan Alimpo.“
Sie blickte den Sprecher ungläubig an, plötzlich jedoch ergriff sie wortlos den Arm der Freundin und zog diese im eiligsten Lauf mit sich fort. Der Kastellan folgte. Als sie die Wohnung des Unglücklichen betraten, saß die Kastellanin noch immer händeringend auf dem Stuhl; der Graf schritt katzengleich im Zimmer auf und ab und wiederholte noch immer dieselben Worte.
Rosa hatte bis zu diesem Augenblick an irgendeinen drolligen Irrtum geglaubt, desto größer aber war der Schlag, welcher sie bei dem Anblick ihres Vaters traf. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, sie griff mit den Händen in die Luft, um einen Halt zu suchen, und sank in die Arme Amy Lindsays. Die Ohnmacht wollte sich ihrer Sinne bemächtigen, aber sie raffte sich zusammen, machte sich von der Freundin los und stürzte auf den Grafen zu.
„Vater, um Gottes willen, Vater, was hast du, was ist mit dir?“ rief sie.
Er blieb stehen und blickte sie mit seinen stieren, ausdruckslosen Augen an.
„Was mit dir ist?“ fragte er. „Ich weiß es nicht. Du brauchst mir nichts zu tun, denn ich bin ja der treue Alimpo!“
Er sprach diese Worte langsam und monoton, ohne allen Ausdruck.
„Vater, Vater! Du bist krank. Kennst du mich nicht?“
„Kennen?“ fragte er, leise mit dem Kopf schüttelnd. „Ich kenne niemand. Ich bin Alimpo.“
„Nein, du bist nicht Alimpo“, rief sie. „Du bist mein Vater, mein lieber, lieber Vater. Komm und besinne dich!“
Mit lautem, herzzerbrechendem Weinen warf sie sich an seine Brust; sie streichelte ihm die Wangen und das wirre Haar, sie küßte ihm den Mund und die erkaltete Hand, sie drängte sich mit ihrer ganzen Liebe und ihrem ganzen Schmerz an ihn. Er aber blieb teilnahmslos in ihren Armen, wehrte sie endlich von sich ab und sagte:
„Du brauchst mich nicht zu erdrücken; du brauchst mir nichts zu tun, denn ich weiß nun, wer ich bin. Ich bin Alimpo, ja der treue Alimpo!“
Das war zuviel. Rosa sank mit einem stöhnenden Schluchzen auf den Diwan; ihre Freundin eilte herbei und schlang laut weinend die Arme um sie, und auch der Kastellan und seine Frau weinten trostlos, als ob sie beide Kinder seien. Der Graf stand vor ihnen, blickte sie mit gläsernen, geistlosen Augen an und sagte:
„Weint nicht! Ich habe euch ja nichts getan. Ich bin der treue Alimpo.“
„O Gott, was sollen wir tun?“ jammerte Rosa, vor Schmerz ganz fassungslos.
„Ist Señor Sternau denn nicht da?“ fragte Amy unter Tränen.
Da sprang die Gräfin auf.
„Sternau!“ rief sie. „Oh, wie konnte ich den vergessen! Er allein kann helfen, ja er wird helfen. Aber er ist nach Barcelona. Alimpo, rasch einen Boten ihm nach! Er soll sofort umkehren.“
„Nach Barcelona?“ sagte der Kastellan, bereits auf dem Sprung. „Wo ist er da zu finden?“
„Ach Gott, das weiß ich nicht! Schicke drei, vier, fünf Boten. Sie mögen jagen, sie mögen die Pferde totreiten, wenn sie ihn nur finden. Schnell, schnell! Hier ist jede Minute kostbar.“
Sie dachte nicht an ihren Bruder, sie dachte an niemand als nur an den Geliebten. Der Kastellan stürzte förmlich nach den Ställen, und nach kaum zwei Minuten jagten drei Boten auf den schnellsten Pferden aus Rodriganda fort.
Graf Alfonzo stand in dem Zimmer der Schwester Clarissa am Fenster. Er sah die Reiter und wandte sich an die fromme Dame mit der Bemerkung:
„Es muß etwas Ungewöhnliches geschehen sein, Mutter. Der Graf sendet soeben drei Expresse ab.“
„Ah! Wohin?“
„Das läßt sich nicht sagen. Sie eilten rechts nach der Straße von Mataro oder Barcelona hinüber.“
„Ich könnte mir keine Veranlassung denken. Willst du dich nicht einmal erkundigen, mein Sohn? In unserer Lage ist alles von Bedeutung, zumal ein so ungewöhnliches Ereignis wie die Absendung von drei Boten zugleich. Wer unter so sündhaften Menschen lebt, kann nicht vorsichtig genug sein.“
Alfonzo öffnete ein Fenster und winkte den Kastellan herauf, welcher in diesem Augenblick aus den Ställen heimkehrte.
„Wer hat die drei Reiter abgesandt?“ fragte er, als er eingetreten war.
„Ich, gnädiger Herr“, antwortete Alimpo.
„Wohin?“
„Nach Barcelona.“
„In welchem Auftrag?“
„Die gnädige Contezza hat es befohlen.“
„Ah! Was sollen diese Leute denn in Barcelona? Drei zu gleicher Zeit!“
„Sie sollen Señor Sternau suchen.“
Der Kastellan hatte nicht die mindeste Sympathie für Alfonzo; darum ließ er sich seine kurzen Antworten von ihm
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