42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
gegeben hatte, zu sich zu stecken. Sodann nahm er ein kleines Aktenheft zur Hand und begab sich damit zu seinem Gebieter.
Der Graf saß ganz allein an seinem Frühstückstisch, und da nur ein Gedeck aufgelegt war, so ließ sich vermuten, daß seine Tochter nicht so bald zurückerwartet werde. Er trug zwar einen Schirm über den Augen, um sie noch einige Zeit zu schonen, doch war sein Aussehen ein recht befriedigendes, und der freundliche Zug um seinen Mund gab die Gewißheit, daß er sich in einer recht guten Stimmung befinde. Als er den Advokaten erblickte, meinte er:
„Guten Morgen, Cortejo, Ihr kommt mir wie gerufen. Ich wollte nach dem Frühstück Euch zu mir rufen lassen.“
„Ich stehe Eurer Erlaucht zu jeder Zeit und mit allen Kräften zu Diensten“, antwortete der Sachwalter im Ton der tiefsten Ergebenheit.
„Ich weiß es, Cortejo. Ihr habt mir lange Jahre treu und ehrlich gedient, und ich hoffe, daß die Zeit kommt, in welcher ich Euch dankbar sein kann. Ich mag zuweilen einmal unleidlich gewesen sein, das muß auf Rechnung meiner Krankheit geschrieben werden, sonst aber bin ich Euch stets wohlgewogen gewesen. Und heute, da mir das kostbare Licht meiner Augen wiedergegeben ist, fühle ich, wie schön es ist, die Seinen alle glücklich zu sehen. Habt Ihr vielleicht eine Bitte?“
„Ja, Erlaucht.“
„So sprecht sie aus. Ich bin gern bereit, Euch eine Freude zu bereiten.“
„Don Emanuel, ich spreche niemals einen Wunsch aus, welcher mich selbst betrifft“, meinte der Notar mit stolztem Nachdruck. „Meine Bitte betrifft eine rein geschäftliche Angelegenheit. Darf ich den Entwurf zum neuen Kontrakt für den Pächter Antonio Firenza vorlesen?“
„Vorlesen? Hm, ich möchte doch einmal versuchen, ob ich ihn selbst lesen kann. Doktor Sternau ist nicht da, er ist nach Barcelona geritten, und wird mich also nicht überraschen, wenn ich seinem Befehl einmal ungehorsam bin. Gebt den Kontrakt her!“
Cortejo überreichte das Aktenheft. Warum zitterte seine Hand dabei? Die Worte des Grafen waren schuld an der Schwäche, welche sich seiner für einen kurzen Augenblick bemächtigte. Also der Arzt war nach Barcelona. Warum? Wußte er bereits, daß der Geraubte dorthin transportiert worden war? Dieser Sternau war ein höchst gefährlicher Mensch. Cortejo beschloß im stillen, ihm nachzureisen und ihn in Barcelona zu beobachten, vielleicht auch ganz zu beseitigen.
Der Graf hatte das Papier zur Hand genommen und war mit demselben an den Schreibtisch getreten, an welchem er sich niederließ. Er gab dem Notar mit der Hand ein Zeichen, auch Platz zu nehmen, und begann dann die Lektüre des Kontrakts. Seiner schwachen Augen wegen war das Fenster noch immer von einem Vorhang verhüllt, so daß in dem Zimmer ein magisches Halbdunkel herrschte. Aus Freude darüber, seine Augen nach so langer Blindheit wieder gebrauchen zu können, las er laut, wie um seine eigene Stimme zu hören.
Cortejo hatte sich zum Sitz einen Sessel gewählt, welcher ganz nahe am Frühstückstisch stand, so daß er mit der Hand die Tasse des Grafen erreichen konnte. Während die laute Stimme des Grafen jedes andere leise Geräusch unhörbar machte, zog er das Fläschchen hervor und öffnete es. Der Graf kehrte ihm den Rücken zu. Cortejo erhob sich ein wenig und streckte den Arm mit dem Fläschchen aus. Wurde er entdeckt, so war sehr leicht eine Ausrede gefunden. Er hielt das Fläschchen über die Tasse, hob es vorsichtig und zählte zwei Tropfen ab, welche in die Schokolade fielen. In diesem Augenblick hatte Don Emanuel einen größeren Satz beendet und drehte sich herum, ganz unwillkürlich, als ob er sehen wollte, ob Cortejo ihm auch aufmerksam zuhöre. Er sah die Hand des Sachwalters über der Tasse schweben.
„Señor, was tut Ihr?“ fragte er überrascht.
„Verzeihung, Erlaucht; es war nur eine Fliege, welche ich verjagte!“ antwortete der Giftmischer gefaßt.
Er hatte das kleine Fläschchen so in der hohlen Hand, daß der Graf es mit seinen ohnehin so schwachen Augen nicht zu sehen vermochte. Darum drehte sich dieser befriedigt wieder um und las weiter. Als er geendet hatte, sagte er:
„Der Kontrakt ist ganz nach meinem Wunsch. Ich werde ihn unterschreiben. Besorgt ihn zu dem Pächter, damit auch dieser seine Unterschrift gibt.“
Dann trat er an den Tisch und griff zur Tasse. Cortejo hatte sich erhoben und folgte mit gespannten Augen den Bewegungen des Grafen. In seinem Blick lagen kein Erbarmen, keine milde Regung und
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