44 - Waldröschen 03 - Der Fürst des Felsens
schneller, als man zählen kann, und ebenso viele der entfliehenden Vögel fielen aus der Luft herab.
„Ah, was ist das für ein Gewehr?“ fragte der Großherzog.
„Ein Henrystutzen.“
„Ein Repetiergewehr?“
„Ja.“
„Mit wie vielen Schüssen?“
„Mit fünfundzwanzig.“
„Zeigen Sie!“
Sternau gab das Gewehr zur Besichtigung ab. Unterdessen kam Ludewig wieder herein.
„Nicht eine, sondern sieben sind es dahier“, schmunzelte er.
Er legte die Vögel vor, und die Herren staunten, denn eine jede der Krähen war durch den Kopf geschossen.
„Wunderbar!“ rief der Großherzog.
„Wunderbar!“ echoten die anderen nach.
„Das ist keine Kunst“, meinte Sternau lächelnd. „Kurt, gehe hinauf in mein Zimmer und hole das Lineal von meinem Schreibtisch.“
„Darf ich nicht vorher den Sperling schießen?“ fragte der Knabe.
„Welchen?“
„Oben auf dem Glockentürmchen.“
„Ja.“
Auf einem hohen Seitengebäude des Schlosses befand sich ein kleines, offenes Türmchen, in dem eine Glocke hing, die dazu diente, die in Wald und Feld zerstreuten Leute heimzurufen. Dieses Türmchen hatte eine Wetterfahne, und auf derselben saß ein Sperling.
„Den trifft er nicht“, meinte einer der Herren.
„Wollen wir wetten?“ fragte der Knabe.
„Ja“, lachte der Herr.
„Wie hoch?“
„Fünf Taler“, lautete die Antwort, wohl um den Knaben abzuschrecken.
„Gut, es gilt!“ rief Kurt, und schon hatte er sein abgeschossenes Gewehr wieder geladen.
„Onkel Sternau, zählen Sie“, bat er dann, „aber rasch, ehe er fortfliegt.“
„Eins – zwei – drei!“ rief Sternau.
Kurt hatte bei diesem schnellen Zählen kaum Zeit zum Zielen gehabt, aber er drückte ab, und der Sperling fiel von der Wetterfahne auf das Dach und rollte von demselben in den Hof herab. Es zeigte sich, daß ihm die Kugel mitten durch den Leib gegangen war.
„Erstaunlich!“ rief der Großherzog. „Major, Sie zahlen die Wette.“
„Dieses Mal sehr gern“, entgegnete dieser.
Dann zog er die Börse und hielt dem Knaben einen Doppellouisdor entgegen: „Hier, mein kleiner Tell!“
Kurt griff zu und entgegnete:
„Danke, Herr Major. Einen so wertvollen Sperling habe ich noch nie geschossen.“
Alle lachten, und der Knabe ging, um das Lineal zu holen.
„Ich glaube, meine Herren, das macht ihm von uns so leicht keiner nach!“ meinte der Großherzog.
„Hm!“ sagte der Major.
„Oder glauben Sie etwa, Major?“ fragte der Fürst.
„Ja, wo gleich einen Sperling hernehmen?“ antwortete dieser.
„Da fliegt einer“, sagte Sternau in die Luft deutend.
„Donner, wer soll den treffen? Kein Mensch!“
Sternau lächelte leise, da sagte der Herzog:
„So schießen Sie nach der Wetterfahne, wie Hans Winkelsee im Eschenheimer Turm, wie uns Simrock erzählt. Sie ist zwar auch größer wie ein Sperling, aber es bleibt bei dieser Höhe immerhin ein Meisterschuß.“
Der Major nahm den Hinterlader auf, den Kurt einstweilen weggelegt hatte, und betrachtete ihn.
„Ein prachtvolles Gewehr, sehr gut und sorgfältig gearbeitet; ein kleines Meisterstück!“ sagte er. „Ich werde es versuchen.“
Er zielte und drückte ab – es war ein Fehlschuß.
„Donner!“ rief er.
„Hier sind zwei Patronen, Herr Major“, rief Kurt, der mittlerweile zurückgekehrt war.
„Gut. Ich werde es noch einmal versuchen“, entgegnete der Offizier, lud und gab noch zwei Schüsse ab, jedoch wiederum ohne zu treffen.
„Teufel!“ sagte er. „Das ist wahrhaftig eine Blamage!“
Der Major war als ein guter Schütze bekannt, darum sagte der Großherzog: „Es ist keine Blamage, Major. Sie kennen das Gewehr nicht, und das Ziel ist wirklich ein wenig zu entfernt. Lassen Sie ab davon. Was soll das Lineal, Herr Doktor?“
„Es soll ein Ziel sein“, antwortete Sternau. „Kurt vertraust du mir?“
„Ja“, antwortete dieser.
„Willst du es halten?“
„Ja.“
„Auch über den Kopf?“
„Das ist bei Ihnen egal.“
„So tritt hier an das Tor, fasse das Lineal mit beiden Händen an den Enden und halte es über den Kopf empor.“
„Halt, Herr Doktor!“ rief da der Großherzog, „das ist lebensgefährlich, das ist ja der reine Tellschuß!“
„Das soll er auch sein, Hoheit!“
„Aber das können wir nicht dulden. Wir glauben, daß Sie treffen, aber wir wissen auch, daß der kleinste Umstand hier den Tod zur Folge haben kann.“
„Den Tod?“ lachte der Knabe zuversichtlich. „O, Onkel Sternau schießt noch ganz
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