Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
45 - Waldröschen 04 - Verschollen

45 - Waldröschen 04 - Verschollen

Titel: 45 - Waldröschen 04 - Verschollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
sich ein Arm ihr um die Schulter legte, dann schlang sich ein anderer um ihre Taille. Sie stand gar nicht mehr im Zimmer, sondern sie flog durch den Äther, ja wirklich, sie hatte Flügel, und rund um sie glänzten tausend Sonnen, Millionen Engel sangen wundersüße Psalmen, und der liebe Gott blickte so gnädig in all den Jubel drein. Das sah und das hörte, das fühlte sie. Und doch war es nur ein Traum, der höchstens einige Augenblicke gedauert hatte, denn sie war ja wieder auf der Erde, hier im Zimmer. Sie fühlte sich von den beiden Armen leise gezogen, bis ihr Köpfchen an einem Herzen lag, welches sie laut und heftig pochen hörte. Und dann legten sich zwei Finger warm unter ihr Kinn, um dasselbe sanft und leise emporzuheben, und eine Stimme, die sie gar wohl kannte, aber noch nie so mild, so tief erzitternd gehört hatte, sagte im flehenden Ton:
    „Rosita, bitte, mache deine lieben Augen auf!“
    Sie konnte nicht antworten, denn ihr Herz war zum zerspringen voll, aber es war kein einziges Wort darin. Und wieder bat diese klare, innige Stimme:
    „Röschen, liebes Röschen, blicke mich doch einmal an!“
    „Nein!“ hauchte sie, so daß er es kaum hören konnte.
    „Warum nicht?“
    „Ich kann nicht!“
    „Weshalb nicht?“
    „Weil – weil ich mich so sehr fürchte!“
    „Vor mir etwa? Bist du mir vielleicht bös, meine Rosita?“
    „O nein, lieber Kurt!“
    „Gar nicht?“
    „Gar nicht!“ flüsterte sie.
    „Oh, dann will ich dir die Augen heilen, die du nicht öffnen kannst.“
    Und jetzt fühlte sie zwei warme Lippen auf dem rechten und dann auf dem linken Auge. Nun drückten sie sich gar auf die beiden neckischen Grübchen in den Wangen. Das war doch sonderbar, so daß man die Augen wirklich öffnen mußte, wenn auch nur ein ganz klein wenig. Aber sie schlossen sich sofort wieder, denn sie wurden förmlich geblendet von einem Blick, welcher von oben herab in sie hineinleuchtete, wie ein heller, wonniger Sonnenstrahl in das kristallene Blau eines tiefen, jungfräulichen Bergsees. Und dann erschrak sie so sehr, daß sie am ganzen Körper zusammenzuckte, denn die beiden warmen Lippen berührten nun sogar ihren Mund, erst leise, wie sich die Augenwimpern auf die Lider legen, dann fester und fester – war denn das ein Kuß? Nein, das war ein großer, ein gewaltiger Raub, ihre Seele wurde ihr genommen, sie fühlte, wie dieselbe durch die Lippen entwich, hinüber zu dem, in dessen Armen sie lag, in den Armen, die sich jetzt um sie schlangen, so daß ihr Busen warm an seinem Herzen wogte. Und seine Lippen lösten und senkten sich immer wieder auf ihren Mund. Sollte sie sich wehren? O nein, sie war ja gefangen, sie konnte ja nicht. Und bös war sie ja auch nicht auf ihn, denn da jetzt seine leise Frage erklang: „Zürnst du mir, meine Rosita?“ da trieb es aus der tiefsten Tiefe ihres Inneren empor, ihm zu antworten:
    „Nein, mein lieber Kurt.“
    Und nun küßte er sie wieder, sie konnte gar nicht zählen, wieviele Male, bis draußen auf dem Korridor der schlürfende Schritt des Hausmeisters erklang, der sein Tagewerk beginnen wollte.
    Da, jetzt öffnete sie die Augen, denn Kurt hatte seine Arme von ihr genommen, so rasch, als ob der alte Hausmeister hätte eintreten wollen. Er stand vor ihr, so, wie sie ihn noch niemals gesehen hatte. Das waren seine Augen nicht mehr und auch sein Gesicht nicht, und dennoch war er es. Kam es vielleicht daher, daß ihre Seele zu ihm hinübergegangen war? Und jetzt nahm er sie bei den Händen, schaute ihr tief in die Augen und sagte mit einem Lächeln, wie sie es vorhin bei den Engeln im Himmel gesehen hatte:
    „Siehst du, meine liebe Rosita, das war ein Kuß!“
    Bei diesem Ton seiner Stimme kehrte ihr voriges Wesen zurück, so daß sie neckisch fragen konnte:
    „Nicht wie bei einer Tante?“
    „Bei einer alten!“
    „Mit einer langen Nase!“
    „Und vielen Warzen darauf!“
    Und nun lachten die beiden so herzlich über die Tante und die Nase und die Warzen, daß sie es gar nicht merkte, daß er ihr wieder einen Kuß gab und noch einen und noch mehrere und viele, bis die Nase doch nicht ganz so lang war, wie die lange Reihe von Küssen, und sie endlich voreinander standen und sich nur noch bei den Händen hielten, um Abschied voneinander zu nehmen. Sie hatte das Duell vergessen, er hatte ferner vergessen, daß sein Vater ein Schiffer sei, und sie, daß sie die Enkelin eines Herzogs war. Und daran war nur der lange, süße Kuß schuld gewesen.
    „Nun gehe

Weitere Kostenlose Bücher