45 - Waldröschen 04 - Verschollen
der Nähe der Brigg hielten bereits mehrere Boote, welche sich nur noch nicht heranwagten, weil sich der Gouverneur mit dem Sultan noch an Bord befand.
Der Schuß, welchen der Steuermann abgefeuert hatte, hatte die Leute zwar zunächst geängstigt, doch ihr Vertrauen war schnell zurückgekehrt, als sie bemerkt hatten, daß die zwei Herren so furchtlos sich auf das Schiff begeben hatten.
„Wann werden wir absegeln können?“ fragte der Sultan.
„Das weiß ich nicht genau“, antwortete Wagner. „Ich muß Wind und Flut berücksichtigen. Darf ich einen Boten senden, wenn des Nachts eine günstige Brise eintritt?“
„Sende ihn! Ich werde nicht schlafen, sondern warten.“
Damit verließ er mit dem Gouverneur das Schiff, und die anderen Käufer kamen nun herbei. Jetzt begann ein Leben und Treiben, wie man es hier an Bord noch nie gesehen hatte. Gewöhnlich wird bei Geschäften in diesen Gegenden die Ladung an das Land gebracht, wo dann ein wahrer Jahrmarkt entsteht, der oft wochenlang währt. Hier aber konzentrierte sich alles auf das kleine Deck und auf die kurze Zeit bis zum Abend. Der Dolmetscher hatte fürchterlich zu tun, die anderen ebenfalls, und als es dunkel wurde und die letzten Käufer befriedigt die Brigg verließen, da war fast die ganze Bemannung heiser und dabei fürchterlich ermüdet. Und doch mußte noch tüchtig gearbeitet werden, um die eingetauschten Gegenstände zu stauen und unter das Deck zu bringen.
Der Steuermann trat auf das Quarterdeck, um zum ersten Mal frei Atem zu holen. Er traf dort den Kapitän, welcher sich in derselben Absicht hierher zurückgezogen hatte und eine Zigarre rauchte, die ihm vorher versagt gewesen war. „Das war ein Nachmittag wie noch keiner!“ sagte der erstere.
„Und wird wohl ein Abend wie noch keiner“, fiel Wagner ein. „Lassen wir jetzt die gewöhnlichen Sachen beiseite. Ich habe anderes mit dir zu besprechen.“
„Ah! Das klingt ja recht wichtig!“
„Ist es auch!“
„So segle los!“
„Hast du einmal einen Roman gelesen?“
„Hm!“ brummte der Steuermann verlegen. „Welchen meinst du denn?“
„Nun, irgendeinen!“
„Donnerwetter, den habe ich gerade nicht gelesen!“
„Also gar keinen?“
„Gar keinen! Du wirst es wohl erraten haben. An Bord gibt es andere Arbeit als das Lesen, und am Land halte ich es mit der Kneipe und einem guten Glas. Das Lesen hat mir immer Kopfschmerzen gemacht. Mein Hirnkasten ist sehr zart gebaut.“
„Das sieht man ihm aber nicht an!“ lachte der Kapitän. „Wenigstens weiß ich ganz genau, daß er schon manchen guten Hieb erhalten und auch ausgehalten hat.“
„Das ist wahr. Aber das Lesen greift ihn wirklich mehr an, als wenn man mit einem Stuhlbein darauf klopft. Ich hab's erfahren.“
„Das ist schade, denn da wirst du mich heute am Ende gar nicht begreifen.“
„Versuche es nur!“
„Nun, da habe ich einmal einen Roman gelesen, der war betitelt: ‚Die schöne Karoline, oder die verzauberte Kanaille‘, und da – – –“
„Donnerwetter, der Titel gefällt mir!“ fiel der Steuermann ein. „Da war wohl die schöne Karoline eben diese verzauberte Kanaille?“
„Nein, sondern die Kanaille war ihre künftige Schwiegermutter. In diesem Roman kommt eine Prinzessin vor, nämlich die Karoline, welche in die Sklaverei verschleppt wird. Dann kommt ein Prinz und rettet sie.“
„Nun, was hat dies heute mit uns zu tun?“
„Sehr viel! Als ich nämlich den Roman las, da dachte ich, daß es doch ungeheuer schön sein müsse, wenn ich auch einmal so eine Karoline retten könnte.“
„Und heiraten!“
„Na, dazu wäre es nun freilich zu spät, denn meine Karoline habe ich schon. Aber trotzdem muß es schön sein, eine Sklavin zu retten, obgleich man keine Schwiegermutter mehr braucht. Und denke dir, heute hat sie sich gefunden!“
„Wer?“
„Die Karoline.“
„Bist du toll?“
„Nein; ich bin sehr bei Verstand, und den brauche ich auch, denn ich stehe im Begriff, eine gefangene Sklavin zu retten, die aber bereits nicht mehr gefangen ist, sondern erst gefangen werden soll.“
„Das verstehe der Teufel! Ich merke, daß es ein Roman ist, denn die Kopfschmerzen fangen bereits an. Ich hoffe, daß du dich deutlicher erklären wirst!“
„Sogleich! Hast du nicht gehört, was heute morgen der Gouverneur erzählte?“
„Ah! Von den entsprungenen Spaniern und der schönen Sklavin!“
„Ja. Diese werde ich retten. Höre, was ich dir zu sagen habe!“
Er berichtete nun, was
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