5 1/2 Wochen
und alle anderen Menschen (Pilger ausgenommen), Tiere, Orte, und Landschaften nicht wiedersehen werde. Ich gehe den Camino Francés. Das heißt, ich bin jeden Tag, jede Stunde woanders und komme nicht mehr zurück. Es gilt also, alles sehr bewusst wahrzunehmen und loszulassen. Man kann es nicht, wie im „normalen“ Leben, später nachholen. Die große Ausnahme ist die Herrin des Anwesens in Honto.
Nun stehe ich hier, gestützt auf meine Wanderstöcke, mit meinem Hund und Rucksack in Orrison und freue mich auf die gut 16 Kilometer meiner zweiten Etappe. Die Sonne scheint vom leicht bewölkten Himmel. Es ist allerdings sehr stürmisch und höchstens 16, 17 Grad Celsius. Der Muskelkater wird bestimmt anfangen zu schnurren, wenn ich mich nach 500 Metern eingelaufen habe. Ich habe es gehofft und darf es auch erleben, Mary und Lynn noch anzutreffen. Sie wollen ebenfalls gerade loslaufen. Als sie mich sehen, schnallen sie nochmal ab und begrüßen mich stürmisch. Ruddi wird geherzt, geküsst und von Kopf bis Schwanzende genau unter die Lupe genommen, ob da auch alles in Gang und in Ordnung ist. „Wie war Deine Nacht? Hat alles geklappt? Habt ihr gefrühstückt? Tut Dir was weh? Wie weit willst Du heute gehen? Hast Du reserviert?“ wollen sie von mir wissen. Ich beantworte alle Fragen der Reihe nach, bis auf die letzte. Wenn sie erfahren, dass ich nicht vorhabe, zu reservieren, werde ich bestimmt ausgeschimpft. Sie freuen sich, dass es mir so gut ergangen ist. Ich bedanke mich von Herzen für alles, was sie bisher für mich getan haben und bin froh, dass sie die Frage nach der Reservierung vergessen haben.
Sie möchten mit mir zusammen ein Stück gehen. Ich lehne ab, weil ich einerseits den Weg alleine gehen muss und andererseits gestern gesehen habe, wie flott die beiden Grazien den Berg hoch laufen können. Als die Rucksäcke perfekt sitzen, verabschieden sie sich mit den Worten: „Buen camino! Bis heute Abend in Roncesvalles. Wo hast Du gebucht?“ Oh nein! Da ist die böse Frage wieder! Ich versuche, ihnen nochmal in meinem Behelfs-Englisch zu erklären, dass ich nicht - und zwar nie - vorhabe, mich durch gebuchte Betten oder Zimmer unter Druck zu setzen. „Aber Du musst das tun, weil die Herbergen keine Hunde einlassen wollen oder dürfen und es oft nur eine Pension oder ein Hotel in den kleinen Dörfern gibt. Und ob die dann einen Hund aufnehmen ist fraglich“, kontern sie entschlossen, „oder Du kaufst Dir ein Zelt!“ Das scheint für sie die beste Idee aller Zeiten zu sein und rechnen sich voller Tatendrang aus in wie vielen Tagen wir die erste Stadt erreichen, in der wir die Campingausrüstung kaufen könnten. WAS? Wer will ein Zelt kaufen?! Mir wird das jetzt wirklich zu viel. Ich bin ja schon groß und weiß selbst, was ich tun und lassen will auf „meinem Weg“. Ihre Idee ignorierend, umarme ich die beiden liebgewonnenen Frauen, wünsche „buen camino“ und verziehe mich in die Bar der Herberge, nur um diese Situation aufzulösen.
Nach fünf Minuten, so gegen halb neun laufen Ruddi und ich endlich los. Mein Hund humpelt immer noch ein bisschen, aber nicht mehr so schlimm wie gestern. Schon nach zirka 100 Metern ist mein Kopf von dem Gespräch vorhin befreit, weil ich vollauf damit beschäftigt bin, die überwältigende Steigung zu schaffen. Ich denke: „Gestern war das eher ein Kinderspiel bis nach Orrison zu gehen. So steil war das doch gar nicht.“
Die Landschaft ist traumhaft schön. Saftig grüne, hügelige Almwiesen und schneebedeckte Bergspitzen im Hintergrund. Der Himmel ist dunkelblau. Wenige weiße Wolken ziehen schnell vorüber. Drei oder vier Mal sehe ich mehrere Pferde, die hier frei herumlaufen. Es herrscht eine göttliche Ruhe. Ich frage mich wieder, wo die ganzen Pilger abgeblieben sind, die eben kurz vor mir in Orrison gestartet sind. Ich habe das Gefühl, als sei ich ganz alleine unterwegs Richtung Santiago de Compostela.
Ich hoffe, dass ich keine rot-weißen Wegweiser übersehe, denn durch die unglaubliche Steigung ist mein Gesicht sehr nah am Boden. Nach ungefähr zwei Kilometern fällt mir auf einer Wiese ein Campingwagen auf. Ich habe die leise Hoffnung, dass der extra für die Pilger hier ist. Vielleicht kann man da Kaffee trinken und mal die Toilette benutzen. Ich hätte beim Frühstück den Orangensaft weglassen sollen. Der treibt! Als ich auf der Zielgeraden bin, setzt sich die vermeintlich fahrbare Pilger-Bar in Bewegung und ich gucke traurig hinterher. Und jetzt?
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