5 1/2 Wochen
Hallo, ich muss mal! Da vor dem Felsen am Ende der Wiese sind doch noch ein paar Pilger, oder? Eine Frau in einem langen weißen Kleid ist sogar ganz mutig den Felsen hochgeklettert und genießt die Aussicht. Ich spekuliere, ob das wohl eine Braut ist, die vom Altar weggelaufen ist oder gar von ihrem Bräutigam verlassen wurde? Wie unvernünftig, wenn die abstürzt, wer springt dann hinterher? Ich hab keine Zeit, ich muss nach Santiago! Und Hochzeitsgäste sind auch nicht in Sicht. Kurios!
Als ich näher komme, erkenne ich meine Bayern-Frauen und werde plötzlich ganz schnell. Nicht, dass die mir vor der Nase weglaufen, wie eben meine erhoffte Toilette weggefahren ist. Wir begrüßen uns sehr freudig! Ich werde erst mal meine „Anhalter- Geschichte“ los und hoffe, dass das jetzt geklärt ist. „Ich werde den Camino eher abbrechen, bevor ich irgendeinen fahrbaren Untersatz benutze, um weiterzukommen“, teile ich feierlich mit und erkundige mich danach, wie es ihnen gestern ergangen ist. Sie erzählen mir, dass der Weg aus Saint Jean Pied de Port schwerer zu bewältigen war, als sie dachten und sie sehr, sehr langsam und mit vielen Pausen gegangen sind. Sie haben in Orrison übernachtet und sind in aller Herrgottsfrühe gestartet. Medikamente und Bachblüten sind auch schon zum Einsatz gekommen, weil eine von ihnen Muskelzerrungen und Schulterprobleme hat.
Ich erzähle von Ruddi‘s Gehumpel und zack - bevor ich von meiner Massage und Reiki-Sitzung sprechen kann - habe ich auch schon drei winzig kleine Bachblüten-Kügelchen für ihn auf der Hand liegen. Die könnten auf keinen Fall schaden, und ich solle sie im in die Lefzen legen. Da ich weiß, dass das nur helfen kann, mach ich das prompt. Ich bekomme noch den Tipp, ihn auf keinen Fall mit Schmerzgel zu behandeln. Da ist ein Wirkstoff drin, der den Hund sofort tot umfallen lässt, wenn er es ableckt. Ich freue und wundere mich sehr über die Fürsorge auch dieser Frauen.
Ich lasse jetzt mal meinen Blick schweifen und muss unvermittelt laut lachen. Die weiß gekleidete Person ist die „Jungfrau vom Biakorri“, eine Statue - die denkt gar nicht daran, zu heiraten und fällt auch nicht den Fels runter. Die beiden Münchnerinnen stimmen in mein Lachen ein, als ich von meiner Beobachtung berichte.
Mir ist gar nicht aufgefallen, dass sich eine von ihnen entfernt hatte. Ich sehe, wie sie hinter dem Felsen hervorkommt - ohne Rucksack. Na klar, ich weiß, warum sie weg gewesen ist. „Na! Orangensaft getrunken?“ Ich muss da auch hin. Ich habe echte Angst abzustürzen, als ich bei diesem starken Sturm auf dem Felsen rumklettere. Jedoch haben noch nicht viele Menschen beim Pinkeln so eine spektakuläre Aussicht gehabt. Beim Hose-hochziehen wird es noch mal spannend und ich ermahne mich selbst: „Nur nicht runter gucken und das Gleichgewicht verlieren, Birgit.“ Der Wohnwagen wäre intimer und ungefährlicher gewesen, aber dann hätten meine Augen echt was verpasst.
Glücklich und erleichtert wieder bei den Mädels zurück - sie haben auf meinen Rucksack und Ruddi aufgepasst - berichten sie mir, dass das wohl ein Adler-Landeplatz sei, auf dem ich mich ebenso unbeobachtet gefühlt habe. Im Nachhinein wird mir noch ganz anders. Meine Fantasie droht, mit mir durchzugehen. Wenn ein Spatz in meine Richtung geflogen kommt, gerate ich schon in Panik und laufe schreiend weg. Was, wenn ein Adler auf mich zu gesegelt kommt und mich auf seinem Gäste-WC erwischt? Ich wäre unkontrolliert losgerannt und abgestürzt, beziehungsweise freiwillig runter gesprungen und müsste den ganzen Berg nochmal rauflaufen. Oh Mann, hab ich ein Glück - oder haben die Münchnerinnen die Adler frei erfunden!?
Ich habe mich sehr gefreut, die Frauen, mit denen ich meine erste Pilgernacht verbracht habe, hier zu treffen. Aber nun trennen sich unsere Wege auch wieder. Ich lasse sie ziehen und rauche in Ruhe noch eine Zigarette. Dann setze ich entspannt meinen Weg durch die Pyrenäen fort. Der Sturm wird immer stärker. Ich lasse Ruddi nicht von der Leine, weil ich Angst habe, dass er von einer Bö erfasst wird, vom Weg geweht wird und abstürzt. Ich muss mich sehr darauf konzentrieren, in der Mitte der schmalen Straße zu bleiben, damit ich nicht den Abflug mache. Das wäre fatal für Ruddi, denn seine Leine ist am Hüft-Gurt meines Rucksacks befestigt. Zweimal fährt ein Auto hinter mir. Ich weiß nicht wie lange der Fahrer hupen muss, bis ich es wahrnehme. Der Wind kommt von vorne und ist
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