5 1/2 Wochen
Chance zu mir zu kommen. „Dass Du hier bist! Ich habe so oft an Dich und Ruddi denken müssen. Ich dachte schon, Du hättest die Reise abbrechen müssen, weil wir uns so lange nicht getroffen haben.“ Bevor ich zu mir kommen und Worte finden kann, ist er auch schon wieder weg.
Diese Begegnung hinterlässt in mir das zwiespältige Gefühl zwischen Wiedersehensfreude, die ich gar nicht zum Ausdruck bringen konnte und so gerade noch an den verheerenden Mächten eines völlig unerwarteten Orkans vorbeigekommen zu sein. Es gefällt mir nicht wirklich, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, geht es mir viel besser, jetzt, wo er wieder weg ist. Das Ganze kommt mir so unwirklich, fast gespielt vor. Ich kann es gar nicht richtig erfassen. Er sitzt am Tisch schräg gegenüber mit vier anderen Pilgern, die ich nicht kenne. Sie sind in Feierlaune - albern, total ausgelassen und laut. Er wirft keinen Blick mehr zu uns herüber, so, als hätte es die gerade erlebte Situation gar nicht gegeben. Wüsste ich es nicht besser, könnte man meinen, er hätte mich noch gar nicht entdeckt.
Anita und ich sehen uns an und beschließen ohne Worte, nicht mehr über diesen Vorfall zu reden. Wir genießen den Abend bei einem guten Glas Wein und perfektem Essen, haben uns eine Menge zu erzählen und viel zu lachen. Zu später Stunde verabschieden wir uns in der ehrlichen Hoffnung, uns wieder über den Weg zu laufen. Der Tisch, an dem Hermann mit seinen Pilgerfreunden saß, ist leer. So groß die Wiedersehensfreude auch war, sich zu verabschieden hat er vergessen. Sei’s drum. Anita freut sich auf ihr Herbergsbett genauso wie ich mich auf mein großes, frisches Bett in dem schönen Hotelzimmer und in dem ich ungestört schlafen kann. Es ist halb elf in der Nacht, als Ruddi das letzte Mal für heute das Beinchen hebt.
Montag, 5. Mai 2008
Sahagún (2979 Einwohner), 829 m ÜdM, Provinz León
21. Etappe bis El Burgo Ranero, 18 km
So schön dieses Zimmer und wie gemütlich dieses Bett auch sind, ich habe es heute sehr eilig zum Frühstück herunter zu gehen. Natürlich steht an oberster Stelle jetzt erst mal mein riesengroßer Hunger, aber ich muss ja auch noch zum Tierarzt, um für Ruddi ein Ungeziefermittel zu besorgen. Schnell ist das Hundebett im Rucksack verstaut, der Wassernapf mit frischem Nass gefüllt und weggepackt. Trotz aller Eile serviere ich meinem treuen Vierbeiner liebevoll sein Frühstück und werde bei dieser Aktion daran erinnert, auch noch einen Supermarkt aufzusuchen, um neues Futter zu kaufen. Das gibt es ja bekanntlich nicht überall. Hier in der „Großstadt“ habe ich sicher gute Chancen. Das wird alles viel Zeit in Anspruch nehmen, aber die heutige Etappe bis El Burgo Ranero ist ja schließlich auch nur schlappe 18 Kilometer lang.
In voller Montur und Ruddi locker an der Leine führend betrete ich den Frühstücksraum. An einem Tisch sitzen zwei Leute, vermutlich ein Ehepaar. Das sind aber keine Pilger - die sehen anders aus! Es gibt wohl auch in Spanien immer noch Menschen, die einen ganz normalen Urlaub machen. Und das scheinen solche Exemplare zu sein. Welch seltener Anblick: Menschen ohne Rucksack und mit komischen leichten Schuhen an den mit feinem Stoff bedeckten Beinen. Obenrum trägt der Herr ein Jackett, unter dem keck eine Krawatte hervorschaut und die Dame eine feine Bluse. Jedes Mal wenn sie sich nach vorne beugt, muss sie die lange Kette in Schach halten, damit sie sich nicht auf ihrem Teller oder in der Kaffeetasse austoben kann. Die Frau ist sogar geschminkt und hat die Haare schön!
Sie möchten nicht dabei erwischt werden, als sie mich von oben bis unten mustern. Aber den Gefallen tue ich ihnen nicht. Gut gelaunt werfe ich ihnen ein „Buenos días, qué tal (Guten Morgen, wie geht’s)?“ zu. Peinlich berührt, aber freundlich erwidern sie meinen Gruß. Ich lasse mich häuslich nieder, führe die immer wiederkehrende Prozedur durch, um es Ruddi und mir so gemütlich wie möglich zu machen und spüre, dass sie mich genauestens beobachten und darüber sprechen. Als ich meinen ersten Schluck Kaffee trinke, scheinen sie mit meinem Tun zufrieden zu sein. Gerührt zeigen sie auf Ruddi, der vor dem Rucksack liegt und wünschen mir mit unerwartet liebevollen Blicken und Ah!-wir-haben-verstanden-Kopfnicken Richtung meines Reiseführers einen „buen Camino“. Na, dann wäre das ja geklärt.
Der feine Señor, der mich gestern Abend hier empfangen hat, serviert mir ein Frühstück vom allerfeinsten
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