5 1/2 Wochen
unglaubliche Anziehungskraft. Wenn die nicht ziehen, wird es ernst. Ich rauche eine Zigarette und versuche ruhig zu bleiben. Immer noch kein Lebenszeichen. Plötzlich erscheint ein ortsansässiger Hund auf der Bildfläche und dann, das Unfassbare: Ruddi kommt unter der Bank vor, auf der ich die ganze Zeit sitze und unterhält sich - in sicherem Abstand zu mir - angeregt und fröhlich mit seinem Artgenossen. Manchmal ist er ein Satansbraten.
Als sein neuer Kumpel wieder los muss, lasse ich die Leckerlis wieder kreisen. Ruddi scheint für einen Moment vergessen zu haben, worum es eigentlich geht und kommt tatsächlich zu mir. Vielleicht hat ihm aber auch der Kollege ins Gewissen geredet und er ist einfach zur Vernunft gekommen. Er lässt sich jedenfalls ohne großen Widerstand das Cape überziehen und setzt sich vor mir auf die nasse Wiese. Dafür kriegt er natürlich eine Menge Lob und Extra-Lecker.
Na also, geht doch! Endlich kann die heutige Etappe beginnen. Gut gelaunt setze ich mich in Bewegung. Sicherheitshalber schau ich nach ungefähr dreißig Metern nach meinem Hund und glaube es nicht: Er ist wieder zum Steiff-Tier geworden. „Komm jetzt, Ruddi! Stell Dich nicht so an!“ Das war zu viel! Er heult in den höchsten Tönen. Ab und zu kommt ein Pilger vorbei. Sie halten alle meinem Schnurzel die Stange.
Eine Frau sagt kopfschüttelnd: „Ein Hund braucht keinen Regenmantel, der hat sein Fell und wird auch nicht krank.“ So eine Frechheit! Wenn die wüsste wie wütend mich meine Verzweiflung gerade macht! Ich halte lieber meinen Mund, will ja nicht ausfallend werden. Aber die Gedanken sind frei: „Und du hast einen Regenponcho! Warum hast Du eben im Torbogen lamentiert? Hast Du etwa auch kein warmes Wohnzimmer zur Erholung in deinem Rucksack?“ Boah, ich könnte...! Ungefähr sechs, sieben Leute machen mich von der Seite an. So langsam muss ich es als Zeichen von oben werten und habe endlich ein Einsehen. Ein Blitzgedanke rüttelt mich endgültig auf und mir ist klar: Die Frau hat, ohne es zu wissen, haargenau meine wahre Einstellung zum Thema „Kleidung für Hunde“ deutlich gemacht. Sie hat mich quasi nur daran erinnert. Wäre sie noch in Hörweite, würde ich mich bedanken.
Ich befreie das Häufchen Elend auf der Wiese von dem Stressauslöser, packe das Ding in die allerhinterste Ecke meines Rucksacks und verspreche Ruddi, es nie wieder rauszuholen. Endlich können wir wie gewohnt harmonisch und glücklich - trotz Regen - unseren Weg fortsetzen. Ich will keinen Gedanken mehr daran verschwenden und vertraue meinem Vierbeiner. Er hat hier in Spanien schon tausendmal seinen guten Instinkt bewiesen und den hat er mit Sicherheit auch für seine Gesundheit. Basta!
Ohne Sturm ist Regen gar nicht so schlimm und wir gehen ganz gemütlich die gleiche ruhige Landstraße entlang wie gestern. Gegen elf Uhr erreichen wir El Ganso. Von den 50 Einwohnern ist bei dem Wetter nichts zu sehen. Ein Schriftzug weist daraufhin, dass ich mich vor einem „Lokal“ befinde. Endlich bekomme ich einen Café con leche. Durch einen Plastikvorhang betrete ich eine... ja, wie soll ich das Ding bezeichnen? Ich nenne es mal Scheune! Lehmboden, Biertischgarnituren, provisorische Theke, viele biertrinkende Pilger und der entsprechende Lärmpegel. Außerdem ist es kalt und knüselig. Ich setze mich zu der Meute, beschließe aber, hier nichts mit Milch zu trinken, wer weiß... Bei einer Cola bin ich bemüht, mich einzugliedern. Das will aber nicht so recht gelingen. Ich bin nicht in Party-Stimmung. Obwohl der nächste Ort sieben Kilometer weit weg ist, verlasse ich schon nach einigen Minuten diesen an Jahrmarkt erinnernden Platz.
Einige Pilger gehen direkt nebenan in ein Haus. Ich frage nach und erfahre, dass das eine Bar ist. Da wäre ich alleine nicht drauf gekommen. Ich schließe mich ihnen an und werde sehr angenehm überrascht. Durch einen privaten Flur gelange ich in ein großes, gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer, das auch uns Pilgern zur Verfügung steht. Hier wird geheizt und regelmäßig sauber gemacht. Es gibt eine Theke, ungefähr einen Meterfünfzig lang, an der ein Schild befestigt ist auf dem steht: Santiago 240 km. Ich werde sehr andächtig. Das ist ja nur noch ein Katzensprung bis zum Ziel. Wahnsinn!
Die Wirtin ist gut drauf und macht mir mit viel Liebe einen außergewöhnlich guten, besonders großen Café con leche. Ein Deutscher, so um die fünfzig, setzt sich zu mir an den Tisch und erzählt, dass er jedes Jahr
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