5 1/2 Wochen
sprechen, einen Mittelweg gefunden. Ich bin in der Nacht immer wieder wachgeworden, weil mir so kalt war. Nichts desto trotz war es eine ungewöhnliche Nacht. Mit neun „fremden“ Personen auf so engem Raum zu schlafen, ist meiner Ansicht nach nicht erstrebenswert.
Die Berichte meiner Pilgerbekanntschaften, die immer in Herbergen übernachten, sind eher unromantisch: Die Luft wird stickig und jeder macht seine ganz eigenen Schlafgeräusche. Der eine ist dabei leise, süß und liebenswert, der andere laut, bitter und beschämend. Die Pilger verarbeiten nachts ihre Etappen-Erlebnisse und viele stöhnen, reden, schreien, lachen, weinen, grummeln oder schnarchen. Dauernd steht einer auf, kramt in raschelnden Plastiktüten, wechselt seine Verbände oder nuckelt blubbernd an irgendeinem Trinkgefäß rum.
Für Manjarín trifft das alles nicht zu. Kein einziges Geräusch hat die unglaublich friedliche Stille auf diesem Berg in Tomás einsamer Pilgerhütte unterbrochen. Die Hunde haben kein einziges Mal angeschlagen. Selbst die Natur hat sich zurückgezogen. Kein Wind, kein Regen, kein Mäuschen oder ähnliches Getier hat sich geregt. Meine Pilgerfreunde schienen gar nicht wirklich hier zu sein. Niemand bewegte sich auch nur einen Millimeter. Ich hörte noch nicht einmal das Atmen der anderen. Ganz feine Schwingungen machten mir deutlich, dass wir hier zusammen alleine sind - eins sind.
Ich konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Die friedvolle absolute Dunkelheit in Verbindung mit der „zauberhaften“ Stille ließ mich eine innere Ruhe finden, wie ich sie bisher noch nicht kannte. Manjarín scheint wirklich verzaubert zu sein. Es kommt mir so vor, als wäre die Welt „von ganz oben“ angehalten worden, nachdem Richard sein Lied zu Ende gesungen hatte. Die üblichen körperlichen Schmerzen waren wie weggeblasen. Ob der Geist sich für eine Weile vom Körper getrennt hat? Ich hatte den Eindruck, jeder von uns schwebte auf seiner eigenen, weichen Wolke durch die unendlichen Weiten des nächtlichen Universums, endlich einmal in der Lage, an gar nichts zu denken, mit dem sicheren Gefühl, gemeinsam rechtzeitig und wundervoll gestärkt sanft wieder auf der Erde zu landen. Ich bin fast dankbar dafür, so oft wachgeworden zu sein, denn es wäre schade, diese einzigartige Atmosphäre nicht wahrgenommen zu haben. Ich habe nicht alle bis ins Detail befragt, aber die anderen haben die Nacht ähnlich erlebt.
Nun dreht die Welt sich ganz normal weiter und ich merke, dass ich so langsam aber sicher zum Eiszapfen werde. Hätte ich geahnt, dass ich auf dem Jakobsweg auch einen Ausflug auf einer Wolke mache, hätte ich meinen Wintermantel mitgenommen. Der Schlafsack ist für das Abenteuer Camino Francés einfach zu dünn. Nachts auf 1500 Metern wird es empfindlich frisch. Das Aufstehen fällt mir folglich leicht. Ich kann es kaum erwarten, mich warm zu laufen.
Da ich hier in der Hütte nichts ausgepackt, geschweige denn gewaschen habe, ist der Rucksack schnell gefüllt. Um ehrlich zu sein, wache ich mit denselben Klamotten auf, mit denen ich gestern durch den Regen gelaufen bin. Weil es in Manjarín kein fließendes Wasser gibt, fiel die Dusche am Vortag aus. Ich komme mir furchtbar verwahrlost vor, möchte gar nicht wissen wie ich aussehe - für meinen ersten Besuch im Universum hätte ich mich gerne ein bisschen schicker und gepflegter präsentiert. Naja, die Engel werden es mir nachsehen.
Zähneputzen findet draußen vor der Tür auf der Wiese statt. Zum Umspülen hat jeder sein Wasserfläschchen dabei. Das muss reichen. „Liebes Universum, denke dringend daran, mich heute Abend in einem Hotel mit eigenem funktionstüchtigem Bad unterzubringen.“
Zum Plumpsklo geh ich auf keinen Fall! Dem leichten Druck auf der Blase muss ich bis El Acebo standhalten. Es handelt sich lediglich um sieben Kilometer. Das wird ja wohl klappen, nachdem ich jegliche Nahrungsaufnahme verweigert habe, seit ich das hiesige „Dringendes- Bedürfnis-Häuschen“ einmalig benutzt habe.
Während Ruddi ganz in Ruhe vor der Herberge frühstückt, schau ich mich im Morgengrauen ein bisschen um. Meine Heimat ist Dormagen, zwischen Köln und Düsseldorf gelegen. Wir haben zwar Hügel in der näheren Umgebung, aber direkt nach dem Aufwachen bietet sich mir eher die Aussicht auf die Nachbarhäuser und die Autobahn. Wenn ich mich anstrenge, kann ich auch einige Felder und - weit entfernt - unseren Tannenbusch erkennen. Heute Morgen brauchte ich nur zehn
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