5 1/2 Wochen
schüchtern ist.
Schon wenige hundert Meter später mach ich mir keine Gedanken mehr über ihn. Ab jetzt habe ich ganz andere Probleme. Ich stehe nun, nachdem ich die Landstraße überquert habe, an einem schwindelerregenden Berghang und muss einen Weg betreten, der an einen ausgetrockneten Flusslauf erinnert. In den Pyrenäen habe ich solche Abschnitte auch schon bewältigt, aber das hier ist eine ganz andere Liga. Ich vergesse fast zu atmen. Wie soll ich da bloß runter kommen? Lose, dicke Felsbrocken und kleine Steine „zieren“ den Pfad. Ich kann mit den Augen nicht mehr als einen Schritt vorausplanen. Jeden einzelnen muss ich im absoluten Hier und Jetzt spontan kreieren.
Schwer bepackt steht mir eine Klettertour nach unten bevor. Innerhalb der nächsten vier Kilometer gilt es fast 400 Höhenmeter abwärts zu bewältigen. Im Schnitt also pro Kilometer 100.
Das ist viel zu steil! Wenn ich an dieser Stelle hinfalle, rolle ich garantiert gnadenlos und ungebremst bis ins Tal.
Ich versuche mich zu beruhigen. Schritt für Schritt, meine Wanderstöcke mit Bedacht einsetzend, beginne ich mutig den Abstieg. Der Rucksack drückt mich natürlich zusätzlich vorwärts. Ohne die Stöcke könnte ich das nicht bewältigen. Meine Knie fangen an zu zittern und ich spüre, wie sich zuerst meine Gesichtszüge und nach und nach der ganze Körper vor lauter Anspannung versteinern. Kalt ist mir schon lange nicht mehr. Im Gegenteil, ich wandere im eigenen Saft. So geht das nicht! Ich muss locker bleiben!
An einer relativ sicheren Stelle bleibe ich, auf meine Stöcke gestützt, stehen. Mit tiefen, bewussten Atemzügen tanke ich frischen Mut und neue Energie. Ich lasse die Schönheit dieser unberührten Berglandschaft noch tiefer in mein Herz. Ganz langsam entspanne ich mich wieder. „Wie viele Pilger sind hier schon runter gelaufen. Es liegen keine Leichen oder Skelette am Abhang. Du schaffst das, wenn Du ruhig bleibst und Dir Zeit nimmst. Step by step!“ erzähle ich mir selbst so überzeugend, dass es weitergehen kann.
Ungefähr nach einer halben Stunde, glaube ich, meinen Augen nicht trauen zu können. Da ist er wieder! Der Mann mit dem Welpen! Wie kommt der denn hierhin? Sicher ist, dass er mich nicht überholt hat. Gibt es hier vielleicht unterirdische Gänge, wie in Köln die U- Bahn? Vielleicht sogar mit Bars und Toiletten? Mein Reiseführer erwähnt so etwas jedenfalls nicht!
Wie zuvor steht er einfach nur da. Das Hundebaby hat er nun auf dem Arm. Der will mir doch nix, die Gelegenheit hätte er eben schon gehabt. Ich grüße ihn mal mit einem abgekämpften „Hola“ und schau ihm sogar ins Gesicht. Mit freundlichen Augen antwortet er: „Buen camino!“ Durch die Widrigkeiten der Wegbeschaffenheit bewege ich mich in Zeitlupe an ihm vorbei. Mir kommt die Idee, dass er es sich zur Aufgabe gemacht haben könnte, mich, als letzten Pilger in der heutigen Schlange, bis El Acebo im Auge zu behalten und eventuell sogar aufzusammeln, wenn ich hier stolpere oder gar abstürze. Wie ist der bloß unbemerkt an mir vorbeigekommen?
Ich quäle mich weiter Schritt für Schritt Richtung Tal. Man stelle sich nur mal vor, ich hätte mich gestern Abend im Dunkeln und bei Regen auf diese Piste gewagt. Ich spekuliere, ob Tomás das überhaupt zugelassen hätte. Ich bin davon überzeugt, dass er mich eher gefesselt und angekettet hätte.
Eine gute Stunde später, nach einer Haarnadelkurve, bleibe ich nochmal stehen und wage einen Blick in die Feme. Hurra! Ich sehe die schiefergedeckten Dächer von El Acebo. Dieser Ausblick ist atemberaubend und einmalig. Das sind die schönsten Dächer, die ich je gesehen habe. Noch ein paar hundert Meter, dann ist es geschafft. Ich fantasiere von einem WC, anschließendem Essen und Café con leche. Meine Blase und der Hunger plagen mich schon seit einer ganzen Weile. Mein Körper fühlt sich sehr vernachlässigt und wenn ich mir Ruddi so ansehe, ist der auch heilfroh, wenn wir unten sind. Für ihn war es ebenfalls ein schwerer Weg. Mit seinen dünnen Beinchen und klitzekleinen Pfoten musste er sich - wie ich - jeden Schritt dreimal überlegen.
Da ist er wieder! Jetzt bin ich mir sicher. Er ist mein in Lumpen gekleideter Schutzengel! Zumindest für heute. Zustimmend nickend und zufrieden lächelnd steht er am Wegesrand. Same procedure: „Hola!“ „Buen camino!“ Frage ich mich gerade ernsthaft wieder, wie er an mir vorbeigekommen ist? Ich werde es nie erfahren. Aber so langsam gibt mir sein
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