5 1/2 Wochen
plötzliches Erscheinen so etwas wie Sicherheit. Keine Spur mehr von Angst oder mich-mulmig-fühlen. Tja, es ist schon eine besondere Gegend.
In El Acebo schleppe ich mich mit letzter Kraft in die erstbeste Bar. Sie ist gerammelt voll. Ich lasse mich völlig erledigt auf einen freien Stuhl fallen und bin gerade dabei, im Rucksack nach Ruddi’s Kuscheldecke zu kramen, als ich mit viel Tamm-Tamm von zwei Menschen angesprungen werde. Sie umarmen und knutschen mich. Ruddi ist ebenfalls komplett aus dem Häuschen und springt an den beiden hoch. Es dauert eine Weile, bis ich realisiert habe, wer mich da fest umschlungen hält. Es sind Mary und Lynn aus Vancouver. Meine beiden Pilgerfreundinnen aus längst vergangenen Zeiten und Etappen. Ich raste förmlich aus vor lauter Freude. Das gibt es doch gar nicht! Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Wie gewohnt und unvergessen tauschen wir uns mit Englisch, Spanisch, Händen und Füßen aus. Unter amüsierter Beobachtung der vielen anderen Gäste, gackern wir wie die Hühner, wenn endlich der Hahn aus dem Urlaub kommt.
Ruddi kann sein Glück auch kaum fassen. Wie „früher“ haben Lynn und Mary jede Menge Köstlichkeiten für ihn im Rucksack. Damit nicht genug, wandert er natürlich von einem Schoß zum anderen und genießt tausend Streicheleinheiten. Momentan ist er der glücklichste Hund auf der ganzen Welt und ich bin die glücklichste Pilgerin auf den gesamten 784 Kilometern Jakobsweg. Gerade diese beiden Frauen wiederzusehen...! Wir haben vom ersten Tag an für eine relativ kurze, aber umso intensivere Zeit die Tücken des Caminos zusammen bewältigt. Es ist zu vergleichen mit dem Gefühl, die gesamte Jugend gemeinsam verbracht zu haben und sich im Erwachsenenalter endlich wiederzusehen. Noch ein Moment mehr, den ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen werde.
Nach einigen Croissants und Cafés con leche machen wir uns gemeinsam auf den Weg aus dem wunderschönen El Acebo - übrigens das erste Dorf des Bierzo - mit seinen 50 Einwohnern heraus. In einer kleinen Tienda kaufen wir noch gemeinsam Wasser und ein paar Snacks für den nächsten Teil der Bergtour runter nach Riego de Ambrós und beginnen dann schweren Herzens, aber glücklich uns wiedergefunden zu haben, getrennt einen weiteren Abschnitt der heutigen Etappe.
Die folgenden 3,6 Kilometer beinhalten zwar auch wieder gute 200 Höhenmeter, aber zunächst über die Landstraße. Das ist ja einfach! Da muss ich lediglich die Handbremse leicht angezogen lassen, aber nicht mehr ständig auf meine Füße gucken. Ruddi muss zwar wegen des Autoverkehrs an der Leine laufen, aber auch er findet es momentan sehr entspannend.
Nach ungefähr zwei Kilometern verläuft der Camino dann weiter durch die wilde, ursprüngliche Berglandschaft. Dieser Abschnitt ist nicht ganz so steil, wie der von heute Morgen, aber trotz allem sehr tückisch. Weit und breit ist wie gewohnt - und doch immer wieder erstaunlich - keiner der vielen Pilger zu sehen, die sich in El Acebo getummelt haben. Wollen Sie es von mir schwarz auf weiß haben oder können Sie es sich schon denken, wer hinter der nächsten Kurve auf mich wartet? Nein, nicht Mary und Lynn! Mein Schutzengel! „Hola!“ „Buen camino!“ Mir kann heute nichts passieren, dessen bin ich mir sicher. Dieser Mann muss ein überzeugter Templer sein!
In dem kleinen Dorf Riego de Ambrós finde ich eine schöne Bar mit Außenterrasse. Da wir von Bergen umgeben sind, muss ich mit meinen, vom ständigen Bergablaufen, butterweichen Knien, gefühlte dreihundert Treppenstufen erklimmen, um an ein Getränk zu kommen. Stöhnend und ächzend schaffe ich auch das noch. Ich bin der einzige Gast, suche mir den schönsten Platz aus, atme ganz ruhig und tief durch und lasse meine Seele baumeln. Ich könnte den Rest des Tages einfach hier sitzen bleiben.
Eine junge Japanerin gesellt sich zu mir. Sie hat nur zwei Wochen auf dem Camino und ist sehr traurig darüber, dass die Hälfte der Zeit bereits rum ist. Genau wie mir, gefällt es ihr, einfach den lieben langen Tag zu laufen. Wir philosophieren darüber, warum uns das so gut gefällt, obwohl jeder Muskel und Knochen im Körper wehtut. Wir fühlen uns frei, wir haben keine Verpflichtungen, wir lassen uns auf wildfremde Menschen ein und sind fasziniert von der Vielfältigkeit des Wanderlebens an sich. Es gibt kein Zurück, es geht ständig voran. Nichts wünscht man sich so sehr, wie sein Ziel endlich zu erreichen und doch stimmt es einen unendlich
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