5 1/2 Wochen
Schritte zu machen, um einen Sonnenaufgang vom allerfeinsten mitten in den Montes de León erleben zu dürfen. Ganz bewusst nehme ich mit tiefen Atemzügen die taufrische Luft in meine Lungen auf. Diese reine - ja, unschuldige - Brise verteilt sich deutlich fühlbar und nach mehr lechzend, in meinem ganzen Körper. So ungewöhnlich rückständig und verlassen dieser Ort auch sein mag, Körper und Seele lieben ihn.
Mein Blick fällt auf Richard und Celin, die auf einem Hügel vor der aufgehenden Sonne stehen. Sie sehen aus, als wären sie in diesem Moment erst von ihrer Reise aus dem Universum zurückgekehrt. Vielleicht blicken sie ihrer Wolke noch hinterher, die leise wieder davon gleitet. Sie würden ein schönes Paar abgeben. Wer weiß, vielleicht sind die beiden ja letzte Nacht eng aneinander gekuschelt durch die Nacht geflogen.
Tomás und seine Leute haben frischen Kaffee gekocht und ein einfaches Frühstück vorbereitet. Wir Pilger sitzen noch ein Viertelstündchen zusammen und dann verlassen wir nach und nach Manjarín. Richard, Celin und ich verabschieden uns gemeinsam von den Templern. Gerade als wir die vielen Wegweiser vor seinem Haus passieren, kommt Tomás herausgestürzt, läuft zu Celin und hängt ihr mit einem vielsagenden, liebevollen Blick eine Kette an ihren Wanderstab. Er winkt und ruft uns allen zu: „Buen camino!“ Sie hat Tränen in den Augen, läuft nochmal zu ihm und bedankt sich mit einer herzlichen Umarmung.
Es bleibt ihr Geheimnis, warum er ihr ein Abschiedsgeschenk gemacht hat. Sie verrät mir nur soviel: „Ich bin gestern Mittag schon hier angekommen und habe mir einige seiner speziellen Anwendungen geben lassen. Danach habe ich fast eine Stunde lang schweigend dagesessen und Tomás hat einige Rituale vollzogen. Das hat unendlich gut getan und wird für immer in meinem Herzen bleiben.“ Mehr möchte sie dazu nicht sagen. Ich dränge sie natürlich auch nicht, sehe nur, wie glücklich sie ist.
Jetzt fällt mir wieder ein, dass in meinem Reiseführer erwähnt wird, dass hier bei Bedarf gute Dienste geleistet werden und ich erfahre im Nachhinein, dass viele Pilger bewusst einen ganzen Tag hier verbringen, um genau diese einzigartigen und ganz persönlichen Erfahrungen mitzunehmen. Meine Meinung zu Manjarín ist, dass ich beim nächsten Mal zwar vier, fünf Stunden einplanen würde, um Tomás Dienste in Anspruch zu nehmen, aber im nächsten Ort übernachten müsste, weil für mich persönlich eine Toilette, Wasser und Strom zum Überleben dazu gehören. Es ist fast schade, dass ich zu denen gehöre, die sich wegen ein bisschen Luxus, eine solch außergewöhnliche Nacht beim nächsten Mal entgehen lassen würden.
Es ist 8.45 Uhr. Die nächsten drei Kilometer fuhren in leichtem Anstieg zum höchsten Punkt des Camino Francés auf 1515 Meter über dem Meeresspiegel. Die Aussicht ist atemberaubend. Gestern hatte ich in meiner Verzweiflung überhaupt keinen Sinn mehr dafür - oder war es zu neblig? Dafür genieße ich jetzt umso intensiver die Montes de León mit ihrem heute stahlblauen Himmel. Die Regenwolken haben wir diese Nacht auf unserer Reise weggepustet.
Bereits nach einem knappen Kilometer fällt mir der Mann mit seinem Welpen aus Tomás‘ Stall auf. Er steht plötzlich wie eine Statue mitten in der Landschaft an einer unübersichtlichen Stelle. Er sieht schon sehr arm und einsam aus. Seine Kleidung hat mit Sicherheit mindestens einen Vorbesitzer gehabt. Alles an ihm sieht so ausrangiert aus. Im ersten Moment ist mir ein bisschen mulmig. Die anderen Pilger sind alle schon weit voraus, außer Sichtweite.
Sicherheitshalber mache ich mich mal so groß ich kann: Knie durchgedrückt, Bauch rein, Brust raus und Kopf hoch. Beruhigend wirkt in diesem Moment Ruddi auf mich. Er beachtet den Mann gar nicht. Normalerweise bellt mein Hund ganz aufgeregt, wenn etwas rumsteht, das ihm nicht geheuer ist, selbst wenn es eine Plastiktüte ist, die sich unangemeldet in seiner gewohnten Umgebung niedergelassen hat. Ich atme nochmal tief durch und gehe, grußlos und ohne ihn anzusehen, meinen Weg. Er bleibt regungslos stehen, sein Welpe scheint sich unsichtbar gemacht zu haben. Selbst Ruddi scheint seinen Artgenossen noch nicht einmal gewittert zu haben. Wir gehen jedenfalls an dem Mann vorbei als wäre er gar nicht da. Hm, was war das denn? Komische Situation, aber es kann ja auch sein, dass er schlicht und ergreifend einfach nur ein bisschen spazieren geht und anderen Menschen gegenüber sehr
Weitere Kostenlose Bücher