5 1/2 Wochen
traurig, dann nicht mehr weiter laufen zu müssen.
So, jetzt aber ab, den Rest des Berges bezwingen! Molinaseca wartet auf mich. Es sind noch gute vier Kilometer und 340 Höhenmeter. Es ist die Hölle! Was für ein Glück, dass ich nicht einen Tag früher hier unterwegs war. Bei dem Regen, der mich die letzten Tage beglückt hat, wäre dieser Weg definitiv nicht begehbar gewesen. Nein! Auf keinen Fall! Ich laufe über blanken Fels. Selbst im trockenen Zustand habe ich ständig Angst, aus- oder runterzurutschen. Es ist so unglaublich steil. Der irische Schriftsteller W. Starkie hat es mal so ausgedrückt: „Molinaseca ist eine bezaubernde kleine Oase auf einer furchterregenden Reise.“
Mir kommt der Gedanke, dass ich in Riego de Ambrós Millionen mit einem Laden für Bergsteiger-Ausrüstungen machen könnte. Auf dem Schild vor meinem Laden würde stehen: „Vorsicht! Nach Molinaseca muss der Pilger über eine 1000 Meter lange Rutschbahn aus Fels. Wenn ihm sein Leben lieb ist, braucht er Seil, Abseilachter, Karabiner und Steigeisen.“ Okay, bis hierher hab ich es auch ohne überlebt, aber es war schon einige Male sehr knapp. Die Adrenalinstöße haben mich wahrscheinlich am Leben gehalten. Es ist wie beim Skifahren, wenn die „rote“ Piste plötzlich Mörder-Buckel wie eine schwarze aufweist. Auf so einer Strecke funktioniere ich einfach, zu viel Denken macht nur Angst - weiter nichts. Augen auf und durch.
Für das Leichtgewicht Ruddi ist die Rutsche Gott sei Dank wie ein Spaziergang im Stadtpark. Er hat immer ein Auge auf mich und mein Treiben. Jedes Mal wenn ich denke „es geht nicht mehr“ feuert er mich an. Über die mittelalterliche Brücke Puente de los Peregrinos (Pilgerbrücke) überqueren wir den Fluss Meruelo. Mit letzter Kraft, aber überglücklich erreichen wir Molinaseca.
gleicher Tag (insgesamt 568,6 km gelaufen)
Molinaseca (771 Einwohner), 590 m üdM, Provinz León
Hotel, Einzelzimmer, 40 Euro inklusive Frühstück
Die Sonne strahlt auf diesen Ort und ich kann Mister Starkie nur zustimmen. Träume oder wache ich? Hier herrscht eine ganz besondere Atmosphäre. Ich nehme Ausgeglichenheit, Frieden, Ruhe, Glück und Gelassenheit wahr. Molinaseca hat eine magische Anziehungskraft. Alles scheint zu glitzern und mir zuzurufen: „Fühl Dich einfach wie zuhause. Wir haben auf Dich gewartet und freuen uns, dass Du gesund und munter angekommen bist. Wir haben alles für Dich vorbereitet. Lass Dich einfach überraschen!“
Ich kann mein Glück kaum fassen. Darauf einen Café con leche! Glücklich und zufrieden setze ich mich vor einer der vielen Bars in einen bequemen Stuhl, genieße die untergehende Sonne und das Ende der überaus strapaziösen, abenteuerlichen, fünfzehn Kilometer kurzen Etappe. Ganz tief in Gedanken versunken blicke ich auf den Berg, den ich eben heruntergekommen bin. Mir wird noch einmal bewusst, wie gegensätzlich gerade die letzten beiden Tage waren. Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt war ich unterwegs. Mir fällt das Ehepaar aus dem schicken Café in León ein. Ich bin so dankbar für ihre aufbauenden Worte: „Es wird auch wieder leichter. Sie erwarten noch einzigartige Landschaften und mit Sicherheit großartige zwischenmenschliche Erfahrungen.“ Wie wahr! Hätte ich in León ein Taxi zum Flughafen bestellt, blickte ich jetzt, unendlich enttäuscht von mir selbst, auf die Nachbarhäuser in Dormagen. Nicht auszudenken! Auch ohne genau zu wissen, was ich verpasst hätte, könnte ich mir den Abbruch des Jakobswegs niemals verzeihen.
So langsam sollte ich mich um ein Bett für die Nacht kümmern. In einer Gasse entdecke ich den Hinweis auf ein Hotel. Aber wo ist der Eingang? Ich finde lediglich eine Klingel neben einer sehr großen, antiken Stadthaus-Tür. Ein Hoteleingang sieht anders aus. Da ich keine Lust habe, weiter durch die Straßen zu irren, lass ich mich nicht irritieren und drücke fest entschlossen auf die Klingel. Nichts, keine Regung. Na dann, gleich nochmal! Immer noch nichts! Schön dranbleiben, sagt mir mein Gefühl und ich gehe in die dritte Runde. Na also, geht doch! Die obere Hälfte der gewaltigen Holztür öffnet sich und eine typische Flamenco-Tänzerin begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln.
Ja, sie haben Zimmer frei. Der Eingang befindet sich um die Ecke. Es sind wohl so hundert Meter - ich will schon aufgeben - da entdecke ich zwei schöne spanische Tänzerinnen auf einem riesigen Balkon, der von aufwendig verzierten Säulen gestützt
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