5 1/2 Wochen
stolpern weiter durch Bachläufe und tiefen Schlamm. Diese Füße da unten empfangen keine Infos mehr aus meinem Hirn. Die platschen nur noch bei jedem Schritt auf den Boden - fast einer Ente gleich.
Ich glaube, irgendwann hat mein Körper beschlossen, in Trance weiterzugehen, um nichts mehr spüren zu müssen. Ich nehme gar nicht wahr, dass wir teilweise auf sehr, sehr schmalen Pfaden unterwegs sind, an deren linken Seite der Berg steil nach oben weist und an der rechten der Abgrund lauert. Nebeneinander kann man hier aus Platzmangel nicht laufen. Ruddi und ich gehen also hintereinander vor Hermann an einem dieser ungesicherten Abhänge auf aufgeweichten Wegen. Ich bin mir der Gefahr nicht bewusst, bis Hermann mich leise anspricht: „Halte Dich besser weiter links, ich trau dem Braten nicht. Es hat so viel geregnet, dass der Pfad wegrutschen kann.“ Erst jetzt nehme ich wieder meine Umgebung wahr und bekomme es im ersten Augenblick mit der Angst zu tun.
Was für ein Glück, dass wir zusammen unterwegs sind! Ich bin wieder bei vollem Bewusstsein, konzentriere mich auch hier, wo keine Steine im Weg liegen, auf jeden Schritt und danke meinem „persönlichen Bergführer“ von ganzem Herzen. Wir erklimmen den Alto de Erro unbeschadet und kommen auch heil durch den Wald wieder runter.
Kurz bevor ich weinend zusammenbreche, sehen wir durch die Bäume hindurch Zubiri. Ich dachte schon wir wären daran vorbeigelaufen. Es ist fast 21 Uhr als wir endlich den Ort erreichen. 27 Kilometer sind eindeutig zu viel in der dritten Etappe. Hoffentlich bekomme ich zu dieser Uhrzeit noch ein Zimmer. Erschwerend kommen das „Landstreicher-Outfit“ und der inzwischen ebenfalls nasse und dreckige Ruddi hinzu. Ich werde ihn „schmuggeln“. Hoffentlich bleibt er ruhig in seiner Tasche, die sich langsam aber sicher in einen Swimmingpool verwandelt.
Gleicher Tag (insgesamt 46,4 km gelaufen)
Zubiri (402 Einwohner), 528 m üdM, Navarreser Pyrenäen
Pension, Doppelzimmer, 25 Euro pro Person ohne Frühstück
Mit letzter Kraft erreichen wir die Brücke aus dem 14. Jahrhundert, die uns in den Ort führt. Es ist unglaublich, aber da ist wieder das faszinierende Glücksgefühl, das einen überkommt, wenn die Etappe beendet ist. Nur die „Nachwehen“ sind heute stärker als an den ersten beiden Tagen.
Kaum im Ort angekommen frage ich einen Spanier nach einer nahe gelegenen Pension. Er deutet auf ein Klingelschild im Hauseingang hinter mir und drückt auch schon drauf. Im gegenüberliegenden Haus öffnet sich ein Fenster und eine Frau winkt uns zu. Sie gibt uns zu verstehen, dass sie sofort runter käme. Sekunden später begrüßt sie uns mit vielen unbekannten Worten und preist ihr letztes freies Zimmer an. Es ist ein sehr kleiner, schmaler Raum - nicht größer als etwa zehn Quadratmeter. Die Betten stehen direkt an der Wand hintereinander. Am linken Ende des Raums befindet sich ein großes Fenster. An der anderen Wand hängen die Heizung und ein Regal, auf dem ein Fernseher steht und die Handtücher liegen. Der Durchgang zwischen Regal und Betten ist höchstens einen Meter breit. Das Bad ist ebenfalls winzig, aber es ist sehr sauber und das Bett ruft meinen Namen.
Die Frau glaubt, dass Hermann und ich ein Paar sind und will nun wissen, ob wir das Zimmer haben wollen. Wir gucken uns an und er fragt mich knapp: „Hast Du ein Problem damit?“ „Nein!“ antworte ich. Wir geben ihr unsere Entscheidung bekannt. Sie strahlt über das ganze Gesicht und geht eine Wendeltreppe hinauf. Wir sollen ihr folgen, um die Formalitäten zu erledigen. Hermann hat immer noch Ruddi auf dem Rücken. Wir verständigen uns mit Blicken und Wortfetzen. Er geht nicht mit rauf, sondern in unser Zimmer und stellt Ruddi in der Tasche vor der warmen Heizung ab. Ich ziehe meine Matschschuhe aus und folge der Señora. Oben gibt es einen wunderschönen Aufenthaltsraum, der aussieht wie ein liebevoll eingerichtetes Wohnzimmer — urgemütlich. Die Frau redet und redet.
Ich verstehe mal wieder nur Bahnhof und Pilgerpass-Stempel. Bereitwillig gebe ich ihn ihr und stelle fest, dass sie eine gehörige Alkoholfahne hat. Deshalb redet die so viel!
Meine Gedanken sind bei Hermann, der unten damit beschäftigt ist, Ruddi ruhig zu halten. Es geht mir durch Mark und Bein, als ich ihn kurz aufheulen höre. Der findet das doof, dass ich so weit von ihm weg bin. Mein Pilger-Kollege ruft hoch: „Komm bitte runter! Ich muss dringend meinen Rucksack in der Herberge
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