5 1/2 Wochen
angehen soll. Einerseits ist es scheinbar einfach, so, wie dieser Camino Francés auf Fotos wirkt. Andererseits liegen unverhofft Steine im Weg oder ich habe das Gefühl, mir würden Knüppel vor die Füße geworfen. Manchmal denke ich, mir zieht einer den Boden unter den Füßen weg und ich weiß nicht, wie ich das umgehen kann, ohne so unendlich viel Kraft aufzuwenden. Wird der nächste Schritt der richtige sein? Bringt er mich - ohne Umwege - weiter, oder fall ich auf die Nase? Nur nicht zurückblicken! Was hinter mir liegt, habe ich ja schon bewältigt. Aber auch nicht zu weit nach vorne gucken, dann stolpere ich über das, was direkt vor mir liegt. Der Regen macht mich nur nass, wenn ich mich nicht vor ihm schütze. Und der Schutz ist lediglich ein dünner, flatternder, knallroter Poncho. Von weitem schon zu erkennen, dass ich nicht immer so aussehe, sondern mich notgedrungen in meinem „Schneckenhaus“ verstecke, damit ich nicht nass (gemacht) werde. Ich habe, Gott sei Dank, immer jemanden hinter mir, der mich im Notfall auffängt. Hier ist es Hermann, zuhause ist es meine Familie.
Ruddi zeigt mir durch seine Unbeschwertheit und Lust am Leben, dass ich das Loslassen praktizieren sollte, einfach im Hier und Jetzt Spaß haben. Wenn mal was Negatives passiert, knurrt und schimpft er lautstark. In der nächsten Sekunde lässt dieser kleine Hund den Ärger einfach wieder los und geht fröhlich weiter seinen Weg, als wäre nichts gewesen. Vergangenheit oder Zukunft kennen Tiere nicht - sie tragen nichts nach und haben niemals Angst vor dem was kommen könnte. Mir fallen die Worte „hab Sonne im Herzen“ ein. Meine Erfahrungen haben mir schon tausende Male gezeigt: Mit einem sonnigen Gemüt ist das Leben ganz leicht und alles funktioniert wie durch Zauberhand. Ich bin gleichfalls davon überzeugt, dass sich diese heutige Etappe bei Sonnenschein ganz anders darstellt - gemütlicher, gefahrloser, wärmer, schöner und unterhaltsamer. Und warum müssen wir uns durch den Schlamm quälen? Weil unsere Gedanken noch verschlammt sind?
Die Wegverhältnisse bleiben so. Diese Etappe scheint kein Ende zu nehmen. Die Schuhe sind durch den angesammelten Matsch doppelt so schwer wie ihr ursprüngliches Gewicht beim Kauf. Damals habe ich mich für die etwas dünnere Sohle entschieden, damit sie nicht so viel wiegen. Seit Oktober letzten Jahres habe ich sie täglich eingelaufen. Das danken mir meine Füße, seit wir in Saint Jean Pied de Port losgelaufen sind. Wir drei gehören zusammen: Meine beiden Schuhe und ich. Sie trotzen selbst dem stärksten Regen und schlimmsten Dreck.
Ich muss lachen, als ich mich an den Kauf dieser knöchelhohen Wanderstiefel erinnere. Zwei, drei Stunden bin ich in dem riesengroßen Geschäft mitten in Köln mit diesen Schuhen Treppen rauf und runter gegangen, über Teststrecken mit dicken Steinen und Neigungen gestolpert und um der Wirklichkeit ganz nah zu kommen, habe ich sogar einen zehn Kilo schweren Rucksack auf meinen Rücken geschnallt. Die hätten da einen Film drehen können: Schweißgebadet vom vielen Schuhe-Anprobieren, die Frisur verrutscht, die Handtasche lieblos um den Hals baumelnd, durch die ungewohnten Kilos auf den Schultern, ein bisschen außer Atem und stark nach vorne gebeugt, eine ausladende Plastiktüte in der linken Hand, Ruddi hocherhobenen Hauptes an der Leine in der rechten Hand und auf der Suche nach einem Schlafsack „wandere“ ich lächelnd - immer die „Contenance“ wahrend - durch das volle Geschäft. Die behaupten zwar hier, dass das die meisten Kunden so machen, aber ich sehe keinen anderen Verrückten. „Egal! Hauptsache meine Ausrüstung und ich passen zusammen, wenn das große Abenteuer beginnt“, dachte ich. Letzten Endes hat sich das bewährt. Bei allen Anstrengungen - die Realität sieht ja doch ein bisschen anders aus - bin ich mit meiner Ausrüstung mehr als zufrieden.
Erst gegen 16 Uhr beginnen Hermann, Ruddi und ich den Aufstieg zum Alto de Erro. Ich weiß nicht, wie ich die noch verbleibenden fast neun Kilometer bis Zubiri schaffen soll. Mir tut wirklich alles unglaublich weh. „Soweit meine Füße mich eben tragen“, hatte ich vor Antritt der Reise geschworen, aber jetzt weiß ich, dass das nicht hinhaut. Hier ist weit und breit nichts, außer einer wunderschönen Landschaft. Aber um ein Bett, eine Dusche und Essbares zu bekommen, muss ich weiterlaufen. Also entschuldige ich mich bei meinem Körper für das nicht einzuhaltende Versprechen und wir
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