5 1/2 Wochen
Rucksack. Ich wälze mich demonstrativ im Bett und finde es echt doof, dass ich nicht bis acht Uhr durchschlafen kann. Ist das Absicht? Will er mich wecken damit ich mit ihm gehe? Ich frage ihn nicht, aber ich fange am frühen Morgen schon an zu grübeln.
Diese Uhrzeit ist im „normalen Leben“ meine Tiefschlafphase. Da ich von 16 bis zirka 23 Uhr arbeite, gehe ich selten vor zwei Uhr Borgens ins Bett und stehe immer so gegen neun Uhr auf. Ich habe jetzt Urlaub und keine Lust, mich mitten in der Nacht aus dem Bett zu quälen. Bei den „echten Pilgern“ ticken die Uhren anders: Sie schlafen in Herbergen, stehen bereits um fünf auf - so mancher auch noch früher - damit sie gegen 14 Uhr in der Herberge ankommen und sich noch ein Bett aussuchen können. Fast alle haben Angst beziehungsweise Stress damit, an ihrem Etappenziel wegen Überfüllung nicht aufgenommen zu werden.
Hermann hat einen anderen Beweggrund: Er will am Nachmittag - wie er es nennt - frei und viel Zeit für die Bars haben. Er „absolviert“ seine Etappe lieber frühmorgens. Ich hingegen möchte in aller Ruhe aufstehen, gemütlich Kaffee trinken und im Laufe des Tages alle sechs oder sieben Kilometer in einer Bar eine Pause einlegen. Wenn mir danach sein sollte, will ich am Wegesrand die Ruddi-Decke ausbreiten, ein bisschen in die Landschaft schauen und die Dinge auf mich wirken lassen. Zeitdruck kann ich hier überhaupt nicht gebrauchen. Ich will „meinen Camino“ einfach nur in vollen Zügen genießen.
Ich schlafe nochmal ein, als Ruhe im Zimmer ist und stehe gegen acht gut gelaunt auf. Das Frühstück fällt ziemlich mager aus: Cornflakes mit Milch, Zwieback mit Marmelade und Café con leche ist alles, was Tom auf den Tisch stellt. Das scheint in den Herbergen normal zu sein. Gäbe es nur ein einziges Croissant ohne alles, wäre ich zufriedener. Ich bin schnell durch und mache mich auf den fast fünf Kilometer weiten Weg nach Villatuerta, in der Hoffnung dort ein zweites Frühstück nehmen zu können.
Tatsächlich gibt es eine Bäckerei-Bar, wie ich sie mal nennen möchte. Sie bieten unter anderem frisch gebackene Baguettes und meine heiß geliebten Croissants an. Es befinden sich ziemlich viele Leute hier drinnen. Ich habe Glück: Da ist noch ein freier Tisch. Ich schnalle meinen Rucksack ab und breite Ruddi’s Decke aus. Er legt sich dankbar darauf und rollt sich ein. Niemand nimmt ihn wahr. Glücklich und zufrieden trinke ich meinen Kaffee, esse mein warmes, unglaublich leckeres Blätterteighörnchen und lese in meinem Reiseführer.
Eine Pilgerin, so um die vierzig Jahre alt, setzt sich zu mir. Sie heißt Ina. Ob das die Ina ist, die gestern Abend nicht zum Essen gekommen ist? Ich weiß sie nicht wirklich einzuschätzen. Sie wirkt ein wenig kühl und reserviert. Wir unterhalten uns ein bisschen. Sie ist ebenfalls alleine auf dem Weg und erzählt mir, dass sie seit ein paar Jahren immer wieder an Brustkrebs leidet und bereits mehrere Operationen und Chemotherapien hinter sich hat. Jetzt geht sie den Camino, anstatt eine weitere Therapie zu machen und hofft, dass die Pilgerreise besser hilft, wieder gesund zu werden.
Es muss unglaublich hart sein, mit dieser Krankheit klar zu kommen. Vor fünf Jahren habe ich meinen Job als Taxifahrerin hingeschmissen, weil ich täglich mit dem Leid der kranken Menschen konfrontiert war. Ich habe im Tagdienst gearbeitet und meistens Patienten zu den Therapien, Ärzten oder auch ins Krankenhaus gefahren. Viele Fahrgäste sah ich täglich. Ich baute ein wirklich enges Verhältnis zu ihnen auf und sie zu mir. Nicht selten wurden mir Operationsnarben oder Wunden gezeigt und sie erzählten mir von ihren Schmerzen und Symptomen, aber auch von Hoffnungen. In den zwei Jahren als Taxifahrerin verstarben über 50 unserer kranken Kunden. Auf einmal waren sie nicht mehr da. Das nahm mich jeden Tag mehr mit. Ich konnte diesen Job nicht länger ausüben, sonst wäre ich auch krank geworden.
Damals bin ich vor den Problemen weggelaufen und heute sitzt Ina in einer Bar in Spanien vor mir und erzählt mir das gleiche, was ich damals von meinen Fahrgästen zu hören bekam. Es nimmt mich sehr mit, es tut mir unendlich Leid für Ina. Aber ich möchte so bald wie möglich hier weg, raus aus dieser Situation. Ich werde jetzt noch schnell zur Toilette gehen und dann verschwinden. „Kann ich den Hund für die paar Minuten hier liegen lassen? Bleibst Du noch so lange hier?“ frage ich sie und bekomme zur Antwort: „Na
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