5 1/2 Wochen
Hähnen. Aus dem einen kann jeder, der hier vorbeikommt, Rotwein zapfen und aus dem anderen Trinkwasser. An dieser Stelle ist eine Internetkamera installiert, die ständig Live-Bilder sendet. Jeder Pilger ruft zu Hause an, um sich seinen Lieben zu zeigen.
Ich habe meinen Eltern auch davon erzählt und versprochen, mich von hier zu melden. Leider ist es genau die Zeit, zu der sie ihren Mittagsschlaf halten. Ich kann sie nicht erreichen. Die Enttäuschung ist natürlich groß - aber war ich nicht diejenige, die darum gebeten hat, die Zeit in Spanien ausschließlich für mich zu haben? Also brauche ich mich nicht darüber zu wundern. Es war mein ursprünglicher Wunsch. Obwohl sich hier an diesem außergewöhnlichen Platz bestimmt der ein oder andere Pilger länger aufhält, bin ich für ein paar Minuten tatsächlich ganz alleine.
Ich warte aber, bis jemand kommt, um wenigstens ein Foto von Ruddi und mir zu machen. Zwei oder drei Minuten später erreicht eine Japanerin diesen historischen Ort und bittet mich, sie zu fotografieren. Na, das trifft sich doch gut. Natürlich mache ich das und dann ist sie es, die mich fragt, ob sie mich auch aufnehmen soll. Das Foto ist genau in dem Moment im Kasten als Achim, Oliver und Sabrina den Weg herauf kommen. Sie fragen mich, ob ich noch gerade stehen kann und wir machen Scherze über die Möglichkeit, sich hier maß- und sinnlos zu besaufen, ohne einen Cent dafür bezahlen zu müssen. Sie rufen zuhause an und postieren sich vor der Kamera. Ich freue mich für sie, dass sie den richtigen Zeitpunkt erwischt haben und in Deutschland gesehen werden. Ohne von dem Wein zu trinken - ich will ja schließlich nicht über den Camino torkeln - gehe ich weiter. Okay, ich gebe zu, dass ich ein bisschen traurig bin, meine Eltern nicht erreicht zu haben.
Betrübt setze ich meinen Weg fort. Auf einmal möchte ich doch nicht alleine laufen, aber es ist kein anderer Pilger in Sicht. Nach ein oder zwei Kilometern gibt es eine Bar. Vielleicht treffe ich ja da jemanden. Ich betrete einen riesigen Saal, in dem mehrere „normal große“ Bars Platz hätten. Niemand außer mir und der Bedienung hält sich hier auf. Ich suche einen von zig Tischen aus, hole einen Café con leche an der Theke, nehme Platz und schau mich um. Was ich sehe spiegelt meine momentane Verfassung wider. Der Raum ist groß und leer: ich fühle mich allein gelassen, ungeliebt, obwohl ich doch so viel Platz in meinem Herzen habe. Eine Menge Menschen hätten hier Platz, aber anscheinend findet kein Gast den Eingang (tatsächlich ist der im Souterrain hinter einer Mauer versteckt). Lasse ich keinen an mich ran? Habe ich eine Mauer um mich aufgebaut? Den Reportern, die gerade über den Bildschirm kommen und bestimmt interessante Dinge berichten, wird kein Gehör geschenkt. Ich habe zuhause oft das Gefühl, dass meine Geschichten niemanden interessieren.
Was ist denn da los? Wo kommen auf einmal diese trüben Gedanken her? Ich habe doch gerade in der letzten Woche genau das Gegenteil erlebt! Ich habe in dieser Zeit viele liebe Leute kennen gelernt. Ich wurde oft umarmt und mit leuchtenden Augen begrüßt. Alles was ich erzähle, wird regelrecht aufgesogen. Ich habe unglaublich viel Hilfsbereitschaft erfahren. Die Schlussfolgerung ist daher, dass ich mich auf dem Camino mit Sicherheit den Menschen gegenüber ganz anders verhalte, als zuhause. Ich muss hier „niemand sein“. Ich bin so, wie ich eben bin. Ich verstelle mich nicht, will nicht die „liebe Birgit oder Mama“ sein, muss mich nicht immer beherrschen. Ich bin offen für alles und jeden - und vor allen Dingen einfach glücklich. Ich weiß, dass ich die Menschen, die mich hier kennenlernen, nicht wieder sehen muss und es ist mir piep-egal, ob ich bei den anderen gut ankomme, denn die müssen mich ebenfalls nicht nochmal treffen. Ich hoffe nur, dass ich zuhause diese Einstellung beibehalten kann.
Nach ungefähr einer halben Stunde gebe ich die Warterei auf andere Pilger auf und beschließe, den Trübsinn mit Laufen zu vertreiben. Es ist jetzt kurz nach zwei und ich bin gespannt, wie weit ich heute komme. Vielleicht schaffe ich es ja sogar bis nach Los Arcos. Das sind allerdings noch 17 Kilometer - ziemlich unrealistisch. Aber man weiß ja nie! Vielleicht ist der Weg ganz leicht bis dahin? Ich lasse mich wie jeden Tag überraschen. Ich weiß morgens nicht was der Tag so bringt oder wo ich schlafen werde.
Von Azqueta nach Villamayor de Monjardín sind es zwar nur zwei
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