5 1/2 Wochen
Sie ist ziemlich stämmig, geht etwas gebeugt und sehr langsam. An einer roten Fußgängerampel beobachte ich, dass sie mit einer sehr alten Spanierin spricht. Ich glaube es geht um eine bestimmte Kirche und den Glauben überhaupt. Die Pilgerin bekommt die Handschuhe der alten Dame überreicht. Sie umarmen sich, bevor sich ihre Wege trennen.
Am Stadtrand, mache ich auf einer Parkbank Rast und genieße die Sonne. Hier ist es schon wesentlich ruhiger und ich freue mich, gleich wieder in der ländlichen Gegend unterwegs zu sein. Da kommt die Peregrina von eben zu mir und fragt ob sie sich zu mir setzen darf. Ich bin ganz gespannt wen ich jetzt kennenlerne. Sie heißt Gudrun, ist Mitte fünfzig, gesundheitlich angeschlagen und sehr christlich. Andächtig erzählt sie mir, dass die alte Dame von vorhin ihr die Handschuhe mitgegeben hat, damit sie sie nach Santiago trägt. Sie darf sie aber bis zu ihrer Ankunft in der heiligen Stadt durchaus auch tragen. Ich staune nicht schlecht. Was einem auf dem Jakobsweg so alles passieren kann!
Nachdem ich zu meiner Überraschung eine Banane geschenkt bekommen habe, erfahre ich von Gudrun, dass sie wegen ihrer Schmerzen in den Beinen nicht immer laufen kann und oft nur mit dem Bus weiterkommt. Sie hat sich vor ein paar Tagen mit einer Pilgerin zusammengetan und die beiden haben sich wohl besonders gut verstanden. Ihre neue Bekanntschaft hat sehr viel Verständnis für sie aufgebracht und ist mit ihr zusammen den Weg besonders langsam gegangen. Gestern haben sie sich allerdings gestritten, weil sie selbst angeblich zu egoistisch sei und zu oft wegen ihrer Krankheiten jammere. Gudrun legt sich morgens um vier neue Verbände an, dadurch fühlt sich die andere gestört, weil sie davon wach wird. Die beiden übernachten immer in Herbergen. Ich kann nicht viel dazu sagen, weil ich keine Partei ergreifen möchte. Ich glaube, ich habe mehr Verständnis für die Person, von der mir gerade erzählt wird.
Bevor eine peinliche Pause entsteht, kommt Ina auf uns zu gelaufen. Ich sehe sie als erste und rufe ihr zu: „Hallo, schön Dich zu sehen. Hab ich’s nicht gesagt, dass wir uns bald wieder sehen?“ Ich bin froh, dass sie gerade jetzt kommt, Gudrun wurde ein bisschen anstrengend. Schade, denn sie ist mit Sicherheit ein herzensguter Mensch. Auch sie dreht sich jetzt um. Sie will wissen wen ich da so freudig empfange. Mit großen Augen sieht sie mich wieder an und sagt sichtlich irritiert: „Du kennst sie? Das ist Ina, meine neue Bekannte, von der ich Dir gerade erzählt habe.“ Die beiden begegnen sich etwas unterkühlt, reißen sich aber meinetwegen zusammen. Sie sagen sich, ohne den jeweils anderen anzusehen ein verhaltenes „Grüß Dich, wie geht’s?“ Ich verdünnisiere mich so schnell ich kann, ohne aufzufallen. Ich habe keine Lust auf die Rolle des Vermittlers.
Der Camino versteht es sehr gut, mich von dem Erlebten abzulenken. Ich muss nämlich durch Ayegui stapfen. Es ist hier genauso steil, wie in Cirauqui, nur nicht so gemütlich, deshalb natürlich auch wesentlich anstrengender. Immer wenn ich etwas ohne Begeisterung mache, ist es schwer zu bewältigen. Also pole ich meine Gedanken um. Von diesem Moment an finde ich es toll, mich wieder einer Herausforderung stellen zu dürfen und lobe mich für jeden Meter, den ich höher komme. Sofort geht es leichter voran. Ist das nicht ne Wucht? Gedanken sind Energie! Das kann ich jederzeit feststellen, wenn ich bewusst durchs Leben gehe, die Verantwortung für mich selbst und alles übernehme was mir widerfährt, anstatt die Augen zu zumachen und alles auf die Umstände oder andere Menschen zu schieben. Das ist oberflächlich betrachtet einfacher oder besser gesagt, man ist es sein Leben lang gewöhnt. Wenn die Dinge super gut laufen, klopft sich meist jeder auf die Schulter: „Das habe ich gut gemacht.“ Passieren negative Dinge, sind es die anderen gewesen: „Da kann ich doch nichts für!“ Wenn man aber den Mut hat, seine Gedanken zu reflektieren, stellt sich immer heraus, dass man jede Situation durch sein Denken herbeigerufen hat. Ich weiß schon lange, dass es so ist, aber wenn es mir schlecht geht, neige ich dazu, dieses Wissen zu verdrängen und die Umstände dafür verantwortlich zu machen. Ich arbeite ständig aufs Neue daran.
Kurze Zeit später erreiche ich Kloster Irache, das vor knapp 1000 Jahren ein Pilgerhospital war. Gleich nebenan befinden sich die Bodegas (Weinkeller) Irache. Es gibt dort einen Brunnen mit zwei
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