5 1/2 Wochen
Auf diesem Wegabschnitt von elf Kilometern zwischen Torres del Rio und Viana gibt es wieder keine Versorgungsmöglichkeit. Das bedeutet, dass wir weiter müssen. Es sei denn, wir bauen uns für die Nacht ein eigenes Häuschen aus dem Lehm und den Steinen, die wir auf dem Weg finden. Aber das ist noch anstrengender, oder? Ich glaub, ich spinn - das ist die pure Verzweiflung. Ich bin sehr gespannt, wann wir unser Ziel erreichen. Hoffentlich nicht zu spät, um ein Zimmer zu bekommen. Ina ist immer noch fit wie ein Turnschuh.
Sie lenkt mich ab und erzählt ein bisschen von sich. Ich erfahre, dass sie zuhause den puren Luxus leben könnte. Ihr Mann verdient gutes Geld, aber sie will unbedingt mit ganz wenig auskommen. Sie hat ihr eigenes Konto, auf das regelmäßig ein bisschen Geld fließt und wenn das erschöpft ist, dann quält sie sich durch das Monatsende. Ihr Mann und ihre Kinder können das nicht verstehen, aber sie lässt sich nicht davon abhalten. Aus diesem Grund schläft sie auch in den Herbergen. Sie nennt mir eine Summe, die sie bis Ende April übrig hat, und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sie damit durchkommen will. Es bleibt kaum was für das Essen übrig. Zumal sie ja heute mit mir ein Pensionszimmer teilen will.
Ich schleppe mich wirklich mit allerletzter Kraft weiter Richtung Viana. Immer wieder muss ich mich selbst anfeuern. Ich komme nur noch sehr langsam voran und der Camino kennt kein Erbarmen - er holt heute Abend wirklich das Letzte aus mir raus. Aber es gibt kein Zurück oder Aufgeben. Bus oder Taxi kämen für mich auch heute nicht in Frage - selbst wenn eine gute Fee ein Gefährt herzauberte.
Wo und wann ist mein positives Denken verloren gegangen? Ich höre mich über den Wanderführer meckern: „Das muss doch erwähnt werden, wenn der Weg so anstrengend ist. Dann plane ich doch keine 31,4 Kilometer für eine Etappe. Alles Mögliche steht in diesem blöden Buch, nur nicht das Wesentliche. Ina, sag doch auch mal was dazu!“ Die läuft weiterhin wie ein junges Reh vor oder hinter mir her und sagt: „Komm schon, wir schaffen das. Wir sind bestimmt gleich da. Guck mal, da vorne ist doch Viana schon zu erkennen.“ Das stellt sich allerdings als Irrtum raus. Dieses Lichtermeer, das gerade unser Etappenziel vortäuscht, lassen wir links liegen.
Meine kompletten Beine gehören mir nicht mehr. Die Knie sind leicht gebeugt, die Füße platschen wie in den ersten Tagen, einfach nur noch auf den Boden und mein Oberkörper kommt diesem auch immer näher. Ich habe das Gefühl, gleich zusammenzubrechen. Der Drang zu weinen, mich einfach an den Wegesrand zu legen und einzuschlafen ist riesengroß. Gott sei Dank bin ich in diesem Moment nicht alleine. So schaffe ich es, mich zusammen zu reißen. Das will ich Ina nicht antun.
gleicher Tag (insgesamt 154,4 km gelaufen)
Viana (3425 Einwohner), 475 m üdM, Navarra
Pension, 20 Euro pro Person ohne Frühstück
Als wir die Stadt endlich erreichen, ist es bereits dunkel. Es ist so gegen 21.30 Uhr. Ich laufe nur noch wie in Trance hinter meiner Pilgerfreundin her. Wir müssen die Straßenseite wechseln und über eine niedrige Leitplanke steigen, die die vierspurige Straße teilt. Normalerweise wäre das ein Klacks für mich, aber jetzt schaffe ich das nicht mehr. Es geht einfach nicht! Ich muss ein Stückchen bis zum Anfang dieser Hürde zurückkriechen - habe böse, wütende Gedanken: „Hätte Ina mich nicht vorwarnen können. Die muss doch wissen, dass ich dazu nicht mehr in der Lage bin!“ Wie ungerecht von mir, aber ich empfinde das gerade als Höchststrafe. „Bloß keinen Meter zu viel laufen.“
Die ersten Menschen, die uns begegnen, fragen wir nach einem Hotel. Die schicken uns doch tatsächlich eine lange, steile Straße in den Ortskern hinauf. Unverschämtheit! Ich habe das Gefühl, ich müsste jetzt noch einen Viertausender erklimmen und stehe, mit offenem Mund auf meine Stöcke gestützt, am Fuße dieses schier unüberwindbaren Berges.
Irgendwie und mit Inas Anfeuerungsrufen schaffe ich auch das noch. Wir verlaufen uns noch ein paar Mal, bis ich - nun wirklich am Ende meiner Kräfte - ein Ich-weiß-nicht-wie-viel-Sterne-Hotel ansteuere. Meine Kollegin guckt mich entsetzt an: „Bist Du verrückt? Was meinst Du, wie teuer das ist!“ Ich krächze: „Das ist mir scheißegal! Ich bezahl Dir die Differenz zu 25 Euro. Ich kann nicht mehr weiter.“ Die Empfangsdame, zu der wir über eine Treppe gelangt sind, schaut uns ein bisschen
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