5 1/2 Wochen
Leben überhaupt nicht - ich kann immer essen. Ina empfindet das nicht so extrem wie ich, das sei in Spanien normal. Da fällt mir ein: Das gleiche hat Hermann in Villava zu mir gesagt, als wir in der überfüllten Bar zum Tapas-Essen waren. Was ist eigentlich mit ihm, es ist der erste Tag, an dem ich nichts von ihm gehört habe. Hoffentlich geht es ihm gut. Ich möchte ihn so gerne fragen, ob er sich gestern bei seiner „Ü-30-Etappe“ genauso fertig gemacht hat. Es ist leider viel zu spät, um ihn noch anzurufen.
Ina isst super langsam, ich habe das Gefühl, ich müsse ihr helfen. Ich will weg hier! Ich brauche immer dringender meine Ruhe. Aber sie denkt nicht im Geringsten daran, sich auch nur ein bisschen zu beeilen. Ganz im Gegenteil! Sie fängt in diesem Lärm an, über ihre familiären und gesundheitlichen Probleme zu reden. Sie merkt überhaupt nicht, wie unsagbar schwer es mir fällt, sie zu verstehen - rein akustisch, aber auch die Tatsache, dass sie es hier aushalten kann.
Die letzten Bissen würde ich ihr am liebsten heimlich vom Teller nehmen, nur damit sie ein Ende findet. Es kommt mir vor, als wären es Stunden, bis wir endlich gehen. Draußen atme ich erst mal ganz tief durch und lasse Ruddi aus der Tasche hüpfen. Hoffentlich hat der keinen Gehörschaden bekommen.
Endlich im Zimmer angekommen, nehme ich wahr, wie winzig es ist. Es befinden sich drei Betten hierin. Zwischen dem links an der Wand stehenden und mittleren steht ein Kleiderschrank von einem Meter Breite und zwischen dem rechts an der Wand stehenden und dem mittleren ein Nachtschränkchen. Es gibt einen Stuhl und damit ist die Einrichtung vollständig. Ein kleines Fenster, fast nur ein Guckloch, lässt kaum Luft herein, weil die Mauern dieses Gebäudes ungefähr einen Meter dick sind. Meine Arme sind jedenfalls nicht lang genug, um mit der Hand nach draußen zu gelangen. Folglich kann man überhaupt nicht runter schauen, lediglich auf die gegenüberliegende Häuserwand.
Ich zwinge mich, duschen zu gehen. Am liebsten ließe ich mich einfach nur ins Bett fallen. Das Badezimmerchen ist so eng, dass man sich noch nicht mal die Hose hochziehen kann, ohne mit der Stirn an die Wand zu klopfen. Wenn ich vor dem Waschbecken stehe und mich bücke um die Zähne zu putzen, klebt mein Hintern an der Wand. Die Dusche ist so eng, dass ich kaum die Arme vom Körper weg bewegen kann. Außerdem ist es hier drin schmutzig und schimmelig. Kein Wunder, es gibt kein Fenster. Beim Füße-abtrocknen hat man einen wunderbaren Ausblick in die Kloschüssel. Aber ich habe nach 31,4 Kilometern endlich ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Erholen. Ruddi liegt schon in seiner gewohnten Koje und genießt wahrscheinlich die göttliche Ruhe.
Ina hat beschlossen, dass sie morgenfrüh duschen geht. Wir sind beide fix und fertig. Sie gesteht mir, dass sie ebenfalls sehr mit den Kilometern zu kämpfen hatte und ihre Kraft aus meiner Erschöpfung heraus gezogen hat. Sie hatte große Sorge, dass ich das letzte Stück Weg tatsächlich nicht schaffen würde. Ich gestehe, dass ich die gleichen Bedenken hatte und danke ihr für ihre Unterstützung. Es ist jetzt ungefähr ein Uhr in der Nacht und ich liege bewegungsunfähig im Bett. Die Erkenntnis dieses Tages ist, dass fast 32 Kilometer eindeutig zu viele für mich sind. Und dass ich im Außen erlebe, was ich Innen fühle.
Mittwoch, 23. April 2008
Viana (3425 Einwohner), 475 m üdM, Navarra
9. Etappe bis Navarrete 22,6 km
Der Morgen danach: Mein Körper bestraft mich für die lange Etappe. So muss es sich anfühlen, wenn man in eine Schlägerei geraten ist. Meine Beine sind schwer wie Blei, alles tut höllisch weh. In der Nacht wurde ich schon vorgewarnt. Jede Bewegung hat mich geweckt.
Na gut - das ist Vergangenheit. Lebe den Moment! Wie komme ich am besten in die Senkrechte? Ich mache einen Plan: Erst mal den Oberkörper auf die Seite drehen und dann vorsichtig den Rest nachrücken lassen. Wenn das klappt, hebe ich mit Hilfe beider Arme die Schultern an und versuche, schön langsam die Beine aus dem Bett zu schieben. So steif wie ich bin, bewegt sich mein Oberkörper dadurch im gleichen Tempo automatisch aufwärts. Diese Aktion wird gestartet und läuft unter jämmerlichem Stöhnen in Zeitlupe ab. Nun überrede ich mich liebevoll und mit viel Geduld, die Bettkante zu verlassen. Der erste Schritt gleicht dem des legendären Frankenstein. Der ganze weitere Ablauf erinnert an ihn. Einmal in Bewegung gekommen, geht es
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