5 1/2 Wochen
will sie was trinken. Pausen machen wir nach Absprache, nicht immer spontan. Und es bleibt ein Problem, dass sie mir viel zu viel von ihren persönlichen Problemen aus der Vergangenheit erzählt. In diesen Zeiten spüre ich den Weg gar nicht mehr, bin zu sehr abgelenkt und schwermütig.
Es mag undankbar klingen, denn wir haben uns in den letzten beiden Tagen auch gegenseitig aufgebaut. Aber ich bin auf dem Camino, um zu mir zu kommen. Ich will rausfinden was wirklich wichtig für mich ist, wo ich hin gehöre, wer ich eigentlich bin. Vor allem will ich mich mit positiv denkenden Menschen umgeben, anstatt Probleme fremder Leute und zudem aus grauer Vorzeit zu wälzen. Ich werde mit Ina sprechen müssen, ohne sie zu verletzen. Bin gespannt, wie ich das hinbiegen kann.
Es ist weit nach 19 Uhr als wir uns an die letzten fünf Kilometer der heutigen Etappe machen. Der Weg ist jetzt zwar steil, aber zunächst asphaltiert. Navarrete liegt 120 Meter höher als Logroño, die wollen bewältigt werden. Aber ich habe ja jede Menge Energie getankt. Ina läuft wie immer super locker und momentan ein paar Schritte vor mir. Bewundernswert, wie sie die Hügel hinauf schwebt.
Sie sagt, das hängt mit der Atmung zusammen. „Wenn Du während eines Atemzuges sechs Schritte machst, kann der Berg dir nichts mehr anhaben. Ich versuche, das umzusetzen. Es gelingt mir nicht. Ich brauche öfter neue Luft und bin auch nicht bereit, mich auf meine Lunge zu konzentrieren, denn momentan lässt die Wegbeschaffenheit es zu, unkonzentriert und die Landschaft bewundernd zu gehen. Hier liegen keine Stolperfallen rum.
Nach einiger Zeit ist auch dieses unbeschwerte Laufen vorbei. Es geht weiter über geröllige Feldwege. So langsam wird es Zeit, dass wir unser Ziel erreichen, denn auch die beste Batterie braucht eine Pause, um sich neu aufzuladen. Wir legen vor dem Endspurt noch eine letzte kurze Rast am Wegesrand ein.
In diesem Moment klingelt mein Handy. Es ist Hermann. Seit zwei Tagen habe ich nichts von ihm gehört. Jetzt erzählt er mir ganz aufgeregt, dass er für uns beide eine Wohnung gemietet hat. „Willst Du mit mir da übernachten? Ich würde mich freuen, wenn wir uns wieder zusammen tun. Die Wohnung hat insgesamt fünf Zimmer und eins davon gehört uns. Die anderen sind nicht bewohnt. Also sind wir alleine in diesem Riesending. Wir haben sogar eine Badewanne und es gibt eine Waschmaschine die wir benutzen dürfen. Ich möchte heute Abend mit Dir zusammen essen gehen. Sag ja! Ich komme Dir auch entgegen. Ich bin schon seit zwei Uhr hier. Wie geht es Ruddi? Ist alles okay mit ihm?“ Mann, ist der begeistert, mich erreicht zu haben. Das tut mir unendlich gut. Die positiven Nachrichten freuen mich viel mehr, als ich mir hätte vorstellen können. Ich habe diesem Menschen, den ich erst seit einer guten Woche kenne, soviel zu erzählen. Außerdem kann ich mit ihm einfach nur ein bisschen rumalbern - komme von den ernsten Themen weg. Die Aussicht auf ein festgemachtes Zimmer gibt mir ebenfalls Auftrieb. Ich muss mich also heute Abend ausschließlich um meine Wäsche kümmern. Alles andere ist geregelt. Super!
Glücklich erzähle ich Ina von dieser Überraschung: „Da hat mal wieder einer an mich gedacht. Es gibt jemanden, der meine Gesellschaft haben will, der sich auf mich freut. Komm, wir müssen weiter. Er will mir entgegen laufen.“ Ina antwortet etwas zu kurz: „Na, das freut mich für Dich!“
Gleicher Tag (insgesamt 177 km gelaufen)
Navarrete (2211 Einwohner), 512 m üdM, La Rioja
private Herberge, 15 Euro pro Person ohne Frühstück
Kurz vor Ende müssen wir uns nochmal so richtig anstrengen, quasi das Dorf erklimmen. Auch das schaffe ich noch - Ina sowieso. Dann rufe ich wie verabredet Hermann an und er macht sich auf den Weg zum Ortsrand. Ich packe in der Zeit Ruddi in seine Tasche, denn er muss wieder geschmuggelt werden. Ina macht sich schon mal auf die Suche nach einer Herberge. Ich warte eine Zigarettenlänge an Ort und Stelle, aber Hermann ist nicht in Sicht. Also gehe ich mit schwerem Gepäck Richtung „Innenstadt“. Navarrete gehört mit über 2000 Einwohnern zu den etwas größeren Dörfern. Immer wieder muss ich die Tasche absetzen und stehen bleiben, denn die Straße führt weiter steil bergauf. Meine Füße verstehen die Welt nicht mehr. Die haben immerhin fünf Kilo mehr zu tragen.
Nach ein paar hundert Metern kommt mir ein strahlender Hermann entgegen. Wie vor ein paar Tagen mitten in der Prärie, wird er
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