5 1/2 Wochen
fliegt an uns vorbei und dreht sofort wieder voll auf. Meine butterweichen Knie drohen zu versagen. Ich muss einen Moment stehenbleiben, um den Schock zu überwinden.
Seit zehn Tagen genieße ich es, gefahrlos und sicher auf dem verkehrsfreien Camino unterwegs zu sein. Außer in den Städten, rechne ich nirgendwo mit Autoverkehr. Auf dem Camino ist man ja schon erstaunt, wenn jemand ohne Gepäck unterwegs ist. Nur selten begegne ich einem Bauer, der langsam mit seinem Traktor oder Auto an mir vorbeifährt. In Ortsnähe gehen ab und zu mal ein paar Einheimische spazieren, aber ansonsten gehört der Camino den Pilgern. Die „Gefährlichsten“ sind die Radpilger. Die erschrecken mich ja schon, wenn sie aus dem Nichts plötzlich und unerwartet an mir vorbeirauschen. Übrigens kümmern sich die fremden Männer um mich, erkundigen sich, ob alles in Ordnung ist. Danke!
Der Weg mäßigt sich sehr bald wieder und es geht weiter über breite Landwirtschaftswege. Die Sonne gibt heute kein bisschen nach. Sie ist erbarmungslos. Ich mache weniger für mich, sondern viel mehr für Ruddi immer wieder eine kurze Pause am Wegesrand und lasse ihn dann für ein paar Minuten in meinem Schatten liegen. Er trottet seit einiger Zeit wie in Trance hinter mir her. Die Hitze macht ihm schwer zu schaffen. Es wird höchste Zeit, dass wir unser Ziel erreichen. Schade, dass der Wald nicht größer war.
Die letzten zwei Kilometer bis Azofra verlaufen über eine Nebenstraße. Von Schatten immer noch keine Spur. Links und rechts gibt es nur Felder. Ruddi bereitet mir mittlerweile ernsthafte Sorgen. Er kann nicht mehr laufen. Hechelnd und mit Tränen in den Augen guckt er mich flehend an. Er will noch nicht einmal Wasser trinken. Was soll ich jetzt machen? Ich setze mich auf seine Decke, lege ihn - vor der Sonne geschützt — vor mich und rede auf ihn ein. Er liegt vollkommen erschöpft und regungslos da. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Hat er vielleicht einen Sonnenstich? Dann fällt mir ein, dass ich es mit Reiki versuchen könnte. Zehn Minuten halte ich meine Hände über ihn und beobachte, wie er sich langsam erholt. Nachdem er ein bisschen Wasser aufgenommen hat, gehen wir Meter für Meter in Zeitlupe weiter. Er bleibt ständig hinter mir, sagt keinen Ton.
Ich kann das nicht mehr mit ansehen und setze ihn in das Notfallnetz. Das ist keine gute Idee. Der Jakobsweg verläuft von Osten nach Westen, folglich sitzt er in der prallen Sonne und bekommt von der anderen Seite zusätzlich meine Körperwärme ab. Ich packe also den Rucksack aus, um seine Tasche rauszuholen und ihn darin zu tragen. Sofort klettert er hinein und legt sich unverzüglich hin. Ich räume meine Sachen wieder ein, schnüre mein Bündel und trage ihn über der Schulter. Mein Arm drückt die Tasche zusammen. Die Hitze staut sich darin. Das geht also auch nicht. Ich möchte weinen. Meine Kraft ist ebenfalls kurz vor dem Ende. Der Versuch, die Tasche hinten am Rucksack zu befestigen ist fehlgeschlagen. Ein zweiter Mensch wäre vonnöten, um sie festzumachen nachdem ich den Rucksack angezogen habe. Weit und breit ist niemand in Sicht. Einsamkeit kann einem auch zum Verhängnis werden.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als die sechs Kilo schwere Hundetasche in der Hand zu tragen und darauf zu achten, dass sie so weit wie möglich aufsteht, damit genügend Luftzirkulation stattfindet. Azofra ist schon zu sehen und doch so weit weg. Ich bin wirklich verzweifelt. Es ist wahrscheinlich nur ein Kilometer bis zum Ortseingang, aber ob ich den schaffe? Ich rufe mich zur Ordnung und versuche nicht zu denken, sondern einfach zu funktionieren. „Wenn Du musst, hast Du auch die Kraft dafür!“ höre ich meine Mutter sagen. „Du machst immer Sachen, ohne vorher darüber nachzudenken!“ schimpft mein Vater - und ich will das so nicht stehen lassen. Beide Aussagen geben mir Kraft.
Ungefähr auf halber Strecke will Ruddi wieder selber laufen. Ich bin überglücklich, fühle mich von ihm verstanden und gerettet. Sekunden später ruft Hermann an. Er hat in Azofra in der einzigen Herberge zwei Betten klargemacht. Das Hotel ist ausgebucht. Er hat sich wieder für mich erkundigt und letztendlich auch gesorgt. Ich bin glücklich und erleichtert. Als er hört, was bei uns gerade abgeht, macht er sich sofort auf den Weg, um uns zu helfen.
gleicher Tag (insgesamt 200,8 km gelaufen)
Azofra (328 Einwohner), 559 m ÜdM, La Rioja
Herberge, Doppelbox, 6 Euro pro Person
Am Ortseingang treffen
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