5 1/2 Wochen
Einwohnern - wenn man aus der Einsamkeit kommt - eine Großstadt. Ich will eine halbe Stunde Pause in einer der vielen Bars machen. Ich bin enttäuscht, dass in diesem Lokal keine anderen Pilger sind - ein bisschen Quatschen würde mir schon gut tun. Es drängt sich die Frage auf: „Wozu habe ich jetzt Lust? Wie vertreibe ich die Langeweile? Wie befriedige ich mein Mitteilungsbedürfnis?“ So komme ich auf die Idee, das bis jetzt Erlebte schriftlich festzuhalten. Meine Tochter hatte mir bereits beim Abschied ans Herz gelegt, Tagebuch zu führen. Bis eben hatte ich keinerlei Interesse daran. Ich hatte mir vorgenommen, abends meine Erlebnisse als Tonaufnahme in meinem Handy festzuhalten. Das ist mir bisher nur ein Mal gelungen - im Hotel in Roncesvalles. Danach war ich abends nie mehr alleine und hatte keine Gelegenheit, ungestört meine Erfahrungen aufzusprechen.
Und jetzt - aus dem Nichts heraus - verspüre ich den starken Drang, genau das zu tun was ich mir zuhause nicht vorstellen konnte. Ich habe allerdings kein Papier und keinen Stift. Auf die Hilfsbereitschaft der Spanier setzend, frage ich an der Theke nach den Schreibutensilien. Die freundliche Señorita reicht mir sofort einen kleinen Block und einen Kugelschreiber. So verbringe ich die Zeit damit, die letzten Tage Revue passieren zu lassen und Stichpunkte direkt in meinen Reiseführer zu schreiben. Nach den ersten Notizen erscheint mir das praktischer und übersichtlicher als auf dem Block. Ich vergesse die Zeit und aus der halben wird eine ganze Stunde. Ich muss daran denken, mir gleich einen Kuli zu kaufen, damit ich während der nächsten Pause weiter schreiben kann.
Ruddi schläft richtig fest, der könnte noch ein Stündchen dranhängen. Mit guten Worten lotse ich ihn von seiner Decke. Er schüttelt sich kräftig durch und ist nun wieder startklar. Als ich beim Bezahlen Block und Stift zurückgeben möchte, lacht die junge Frau hinter der Theke mich an und gibt mir zu verstehen, dass ich die Sachen doch noch brauche und einfach mitnehmen soll. Ist das nicht toll? Ich freue mich sehr über die Geschenke und ziehe dankbar weiter.
Die alten, engen Gassen und Häuser im Ortskern konnten ihr mittelalterliches Erscheinungsbild bewahren. Ich gerate ins Träumen. Wenn ich mir die vielen Menschen wegdenke, müsste gleich mein schöner Prinz auf einem großen, braunen Pferd um die Ecke geritten kommen, um mich zum Ball zu begleiten. Oh! Da muss ich mich aber noch schnell umziehen! So, wie ich momentan aussehe, nimmt der mich nicht mit! Ich war in einem früheren Leben mit Sicherheit mal eine Prinzessin. Immer wenn ich durch mittelalterliche Orte spaziere, kommt mir alles so vertraut vor; ich fühle mich beschützt und aufgehoben - eben wie Zuhause. Aber ich sollte so langsam wieder wach werden und das Hier und Jetzt wahrnehmen. Es ist gemütlich in dieser gepflegten Stadt. Mein Hund und ich gehen die letzten Kilometer erfrischt an.
Nájera zu verlassen ist gar nicht so einfach. Die Calle Costanilla hat es in sich. Ich dachte schon, die heutige Etappe hätte keine nennenswerten Anstiege. Zu früh gefreut. Das hier ist einer der „steilsten Wege“, die ich je betreten habe. Hätte ich mir auch denken können, denn er wird im Reiseführer sogar angekündigt. Das will schon was heißen. Beim Überqueren der Straße muss ich meinen Oberkörper dem Berg zuwenden, um nicht in Richtung Tal zu kippen und wieder runter zu rollen. Nach dem Verlassen des Ortes geht es weiter steil bergauf durch einen Pinienwald.
Mein Hund und ich genießen das „Laufen“ im Schatten. Einige Meter vor mir gehen zwei Männer ohne Rucksack. Sie sind in ein Gespräch vertieft, als plötzlich mit einem Höllenlärm ein Quad-Fahrer den Berg hinunter geschossen kommt. Ich gerate in Panik! Wo ist Ruddi? Hoffentlich befindet er sich auf der gleichen Seite wie ich! Ich habe Angst, ihn zu mir zu rufen. Wer weiß, aus welchem Gebüsch er herauskommt. Hektisch überfliegen meine Augen das Terrain hinter mir. Die jahrelange Erziehungsarbeit bewährt sich jetzt. Ich habe ihm beigebracht, sich an meine Fersen zu heften, wenn irgendetwas Fahrbares in unserer Nähe ist. Wahrscheinlich hat er lange vor mir bemerkt, dass diese Situation auf uns zukommt. Ich habe in diesem Wald mit vielem gerechnet, aber bestimmt nicht mit einem motorisierten Irren. Die beiden Fußgänger sind ungefähr 50 Meter vor mir, springen zur Seite und schimpfen was das Zeug hält. Aber der Wahnsinnige bremst nur kurz ab,
Weitere Kostenlose Bücher