5 Auch Geister können sich verlieben
versuche dir doch die ganze Zeit zu erklären, was mich hier zurückhält: die Tatsache, dass nicht ich tot sein sollte.«
»Ähm, ja … das kann schon sein«, sagte ich zögerlich. »Aber das kann ich leider nicht ändern.«
»Was soll das heißen?« Craig sprang auf und baute sich wutschnaubend vor mir auf. »Was meinst du damit, du kannst es nicht ändern? Was mache ich dann hier? Du hast doch gesagt, du kannst mir helfen. Du bist doch eine Mittlerin.«
»Bin ich auch.« Ich sah flüchtig zu Jesse hin, der genauso verstört aussah, wie ich mich fühlte. »Aber ich bestimme nicht darüber, wer sterben muss und wer nicht. Das kann ich nicht beeinflussen. Gehört nicht zu meinem Job.«
Craig wirkte nun zutiefst angewidert. »Na dann
vielen Dank für gar nichts«, stieß er hervor und stapfte zur Tür.
Ich hatte nicht vor, ihn aufzuhalten. Ich wollte selber nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dieser Craig war einfach nur ein unverschämter Kerl mit einem kleinen Spatzenhirn auf den breiten Schwimmerschultern. Wenn er meine Hilfe nicht haben wollte, bitteschön.
Es war Jesse, der ihn aufhielt.
»Du«, sagte er mit einer Stimme, die tief und autoritär genug war, um Craig sofort stehen bleiben zu lassen. »Du wirst dich auf der Stelle bei ihr entschuldigen.«
Craig drehte sich an der Tür langsam herum und starrte Jesse an.
»Vergiss es, du Trottel«, sagte er.
Was keine sehr weise Entscheidung war.
Denn keine Sekunde später wurde er regelrecht an die Tür genagelt. Jesse hatte ihm den einen Arm in einem vermutlich schmerzhaften Winkel auf den Rücken gedreht und presste ihn mit voller Wucht gegen das Türblatt.
»Du entschuldigst dich jetzt sofort bei der jungen Dame«, zischte Jesse. »Sie versucht dir nur einen Gefallen zu tun. Mit jemandem, der einem einen Gefallen tun will, geht man nicht so um.«
Oha. Für einen Kerl, der mit mir scheinbar nichts
zu tun haben will, reagiert Jesse manchmal ganz schön heftig auf Leute, die mich mies behandeln.
»Tut mir leid«, murmelte Craig, den Mund gegen die hölzerne Tür gepresst. Es klang, als hätte er Schmerzen. Auch Tote sind nämlich nicht gegen Verletzungen gefeit. Die Seele erinnert sich an Schmerzen, selbst wenn der Körper längst verloren ist.
»Schon besser«, sagte Jesse und ließ ihn los.
Craig sackte in sich zusammen. Okay, er war vielleicht ein Idiot, aber irgendwie tat er mir doch leid. Schließlich hatte er einen noch übleren Tag gehabt als ich – muss hart sein, herauszufinden, dass man tot ist.
»Es ist nur einfach nicht fair«, jammerte Craig und rieb sich den Arm, den Jesse ihm verdreht hatte. »Es hat den Falschen erwischt. Ich hätte weiterleben sollen. Nicht Neil.«
Ich sah ihn verblüfft an. »Ach, Neil war mit auf dem Boot?«
»Auf dem Katamaran«, verbesserte mich Craig. »Ja, natürlich war er dabei.«
»Er war dein Segelpartner?«
Craig musterte mich genervt, dann warf er einen ängstlichen Blick auf Jesse und wechselte hastig zu leichter Missbilligung.
»Natürlich nicht«, sagte er. »Wir wären doch nie im Leben gekentert, wenn Neil was vom Segeln verstehen würde. Er ist derjenige, der hätte sterben müssen.
Ich weiß echt nicht, was Mom und Dad sich dabei gedacht haben. Nimm Neil mit auf den Katamaran , haben sie gesagt. Nie nimmst du Neil mit aufs Wasser. Na hoffentlich sind sie jetzt zufrieden. Ich habe Neil mitgenommen. Und was hat’s mir gebracht? Ich bin tot! Und mein bescheuerter Bruder hat überlebt.«
KAPITEL 6
Z umindest wusste ich jetzt, warum Neil beim Essen so seltsam still gewesen war. Er hatte gerade erst seinen einzigen Bruder verloren.
»Der konnte nicht mal von einer Seite des Pools zur anderen schwimmen, ohne gleich einen Asthma-Anfall zu kriegen«, betonte Craig. »Also wie bitte konnte er sich bei drei Meter hohen Wellen sieben Stunden lang an den Katamaran klammern, bis er schließlich gerettet wurde? Kannst du mir das mal erklären?«
Nein, konnte ich nicht. Und genauso wenig konnte ich Craig erklären, dass genau diese seine Ansicht, Neil hätte statt seiner sterben müssen, ihn jetzt hier festhielt.
»Vielleicht hast du ja einen Schlag auf den Kopf bekommen?«, mutmaßte ich.
»Na und?« Craigs Antwort bewies mir, dass ich richtig geraten hatte. »Dieser blöde Neil, der nicht mal
dann einen Klimmzug schaffen würde, wenn der Tod ihm im Nacken sitzt, der hat’s geschafft, sich festzuklammern. Und ich mit meinen ganzen Schwimmer-Pokalen? Ich ertrinke! Es existiert keine Gerechtigkeit auf
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