5. Die Rinucci Brüder: In Neapel verlor ich mein Herz
zurechtkommt.“
„Seien Sie nicht so hart mit sich.“
„Ich dachte, ich könnte in dem Gesicht des Jungen so etwas wie eine Antwort finden. Doch es scheint sich ständig zu verändern. Manchmal sehe ich sie darin, manchmal mich.“
„Und manchmal ist es einfach nur sein Gesicht, und so sollte es auch sein. Der arme kleine Kerl kann den Erwartungen, die in ihn gesetzt werden, gar nicht gerecht werden.“
„Das ist mir bewusst. Alle betrachten ihn prüfend, um herauszufinden, ob er wirklich ein Rinucci ist. Und ich werde ständig beobachtet, weil sie herausfinden wollen, ob ich das Richtige empfinde. Also tue ich, was man von mir erwartet, beuge mich zu ihm hinunter, rede mit ihm, um alle zu
überzeugen, dass ich nicht herzlos bin. Außer Ihnen ahnt niemand die Wahrheit, und das soll auch so bleiben. Wenn ich Sie nicht hätte, würde ich verrückt. Sie sind mein moralischer Halt.“
Wenn ich vernünftig wäre, würde ich jetzt die Flucht ergreifen, schoss es Polly durch den Kopf. Sie wusste genau, in welcher Gefahr sie schwebte. Doch sie wollte nicht vernünftig sein, sondern ihm helfen, selbst wenn sie am Ende teuer dafür bezahlen musste.
Sie legte die Arme um ihn. „Sie können sich auf mich verlassen. Ich werde Sie, so gut ich kann, unterstützen, aber nicht, indem ich eine Traumwelt für Sie erschaffe.“
„Das möchte ich auch gar nicht“, antwortete er leise. „Ich will lediglich wissen, wie sie wirklich war, und nur Sie können es mir verraten.“
„Was haben Sie davon? Vielleicht wird alles nur noch schlimmer, wenn Sie sich so intensiv mit ihr beschäftigen.“
Das Glitzern in seinen Augen machte ihr Angst. „Ich will sie noch nicht gehen lassen.“ Er sprach wie im Fieber.
„Sie ist aber in Wirklichkeit nicht mehr hier“, wandte sie ein. „Seit zweieinhalb Jahren quälen Sie sich mit den Erinnerungen herum. Sie glauben, sie überall zu sehen, und haben sich so sehr in diese Scheinwelt hineingesteigert, dass es Sie beinah umgebracht hätte. Ist Ihnen das denn nicht klar?“ „Vielleicht war es ja Ihre Schuld, dass ich den Unfall hatte“, antwortete er.
„Nein, mich haben Sie auf der Rennstrecke nicht vor sich gesehen“, protestierte Polly. „Sie haben sie gesehen. Sie ist eifersüchtig und besitzergreifend und will Sie nicht loslassen, obwohl sie Sie eigentlich gar nicht haben will. So war sie schon immer. Wenn sie etwas nicht bekommen konnte, sollte auch kein anderer es haben. Sie hat ihr Leben verloren, und jetzt …“ Entsetzt über sich selbst, verstummte Polly. „Meine Güte, ich rede über sie, als wäre sie noch da.“
„Dasselbe hat sie mit mir auch gemacht“, erklärte Ruggiero. „Begreifen Sie jetzt, dass es kein Entrinnen gibt?“
„Man muss sich nur wehren, dann ist alles in Ordnung.“
„Und wenn ich es nicht will? Soll ich Ihnen verraten, was auf der Rennstrecke wirklich passiert ist? Ich habe mich gefreut, Sapphire zu sehen. Ich wusste genau, dass es in einer Katastrophe enden würde, es war mir jedoch egal. Ich war glücklich, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich glaube, ich habe sogar ihren Namen gerufen.“
„Ja“, bestätigte Polly.
„Ich bin ihr gefolgt, doch sie ist mir ausgewichen, und plötzlich war sie verschwunden.“
„Meinen Sie etwa, Sie würden sie wiederfinden, wenn ich Sie dorthin führe, wo sie gelebt hat? Glauben Sie mir, damit erreichen Sie gar nichts; im Gegenteil, Sie werden eine Enttäuschung erleben.“
„Wenn ich diese Hoffnung aufgeben müsste, würde ich verrückt.“
„Warum lassen Sie es nicht einfach dabei bewenden, dass sie eine schöne Zeit miteinander hatten und sie Ihnen einen Sohn geschenkt hat?“
„Die schöne Zeit war nur ein Trugbild, sonst nichts“, flüsterte er.
„Ihr Sohn ist keine Illusion. Ruggiero, begreifen Sie es doch endlich, Sie können sie nicht
zurückholen.“
Er schien sich zu entspannen, und sekundenlang glaubte Polly, sie sei endlich zu ihm
durchgedrungen. Behutsam zog sie das Fotoalbum zu sich heran. „Ich nehme es mit, es belastet Sie zu sehr.“
„Nein, lassen Sie es hier“, stieß er hervor und hielt ihre Hand fest.
In dem Moment hörte sie ihr Handy in ihrem Zimmer läuten und sprang auf. „Ich muss schnell zu meinem Telefon, sonst wird Matthew wach.“ Sie eilte hinaus, ohne jedoch die Tür hinter sich zuzumachen.
„Ich habe versucht, dich zu erreichen, mir aber schon gedacht, dass du im Krankenhaus bist“, hörte Ruggiero sie sagen, ehe er die Tür
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