5. Die Rinucci Brüder: In Neapel verlor ich mein Herz
als sonst.“ „Wie denn?“
„Härter und seltsam fremd. Ich habe den Eindruck, als fragten Sie sich, ob Sie die nächsten fünf Minuten überleben werden. Sie lächeln angestrengt und versuchen, das Richtige zu sagen, doch es kostet Sie ungeheure Kraft und Anstrengung.“
„Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen?“, fragte er mit einem angedeuteten Lächeln. „Nein. Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand etwas gemerkt hat.“
„Nur Sie als Krankenschwester, die auf mich als Ihren Patienten ein wachsames Auge hat?“ Am liebsten hätte sie ihm verraten, dass sie in ihm nicht nur den kranken Menschen sah. Ruggiero seufzte und drückte ihr die Hand. „Nein, es liegt nicht daran, dass Sie Krankenschwester sind. Sie sehen Dinge, die andere einfach nicht bemerken. Wie kommt das?“
Sie widerstand der Versuchung, seinen Händedruck zu erwidern, und antwortete: „In meinem Beruf nimmt man nun mal auch vieles wahr, was über medizinische Dinge hinausgeht.“
„Wie meinen Sie das?“
„Wenn beispielsweise ein Mann seine Frau bei uns einliefert, kann ich sofort sagen, ob die beiden eine gute Beziehung haben oder nicht.“
„Und wieso?“
„Wenn er seine Angetraute in jedem zweiten Satz ‚mein Liebling‘ nennt, weiß ich, dass er seine Geliebte anruft, noch ehe der das Gebäude verlassen hat. Dagegen reden die Männer, die allein zu Hause herumsitzen und sich Sorgen machen, nicht viel.“
„Sie machen sich von jedem Mann ein bestimmtes Bild, stimmt’s?“
„Klar. Männer sind so leicht zu durchschauen, dass es mich schon fast langweilt“, meinte sie scherzhaft.
„Kennt Brian Ihre Meinung über seine Geschlechtsgenossen?“
„So offen rede ich mit ihm nicht darüber. Jede Frau hat schließlich ihre kleinen Geheimnisse.“ „Auch vor dem Mann, den sie liebt?“
„Gerade vor dem“, erwiderte sie bestimmt.
„Und er merkt von alledem nichts?“
„Das versuche ich zu verhindern.“
„Dann machen Sie dem armen Kerl etwas vor. Das scheint bei Ihnen in der Familie zu liegen.“ Er stellte das ganz ruhig fest, doch der verbitterte Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Was für ein Mensch ist Brian? Ist er Ihnen treu?“
„Das kann ich nicht beurteilen. Ich hatte bisher keine Zeit, mich mit dieser Frage zu befassen.“ „Hatten Sie denn in dem vergangenen Jahr, als Sie Ihre kranke Cousine pflegen mussten, keine Angst, er würde Sie mit einer anderen Frau betrügen?“
„Ich hatte dazu keine Veranlassung.“
„Weil Sie Angst vor der Wahrheit hatten? Oder ist er so temperamentlos, dass er keine Lust hat fremdzugehen?“
„Das klingt so, als wäre Untreue eine Tugend“, erwiderte sie und lachte unterdrückt.
„Das wollte ich damit nicht sagen. Ich habe nur den Eindruck, Sie sind sich seiner so sicher, dass man ihn fast für ein … Weichei halten könnte.“
„Das ist er ganz bestimmt nicht. Der Job eines Arztes im Krankenhaus ist ein aufreibender Job. Deshalb ist er oft viel zu müde und erschöpft, um noch für andere Dinge aufnahmebereit zu sein.“ „Und wenn Sie zusammen sind, reden Sie dann über Krankheiten?“
Auf eine solche Diskussion hatte Polly sich eigentlich nicht einlassen wollen, zumal Ruggieros Nähe sie so sehr beunruhigte, dass sie befürchtete, er würde es bemerken. Doch dank Brian konnte sie das Spiel fortsetzen.
„Wenn man die gleichen Interessen hat, sind alle Gespräche anregend“, entgegnete sie.
„Haben Sie gestern auch Fachgespräche mit ihm geführt?“
Sie lachte. „Da haben wir überhaupt nicht viel miteinander gesprochen.“
„Warum hat er Sie nicht überredet, in London zu bleiben?“
„Weil ihm klar war, dass ich hier noch gebraucht werde. Er schätzt nun mal mein Pflichtbewusstsein.“ „Liebt er Sie nun, oder tut er es nicht?“
„Er liebt mich, aber er versteht meine Beweggründe.“
„Ist es Ihnen nicht schwergefallen, sich wieder von ihm zu trennen?“
„Ich lasse meine Patienten nicht im Stich“, erklärte Polly, der die Unterhaltung immer mehr Spaß machte, würdevoll. Andererseits war ihr durchaus bewusst, dass sie das Ganze nicht zu sehr übertreiben durfte. „Ich möchte mit Ihnen nicht länger über Brian reden, das würde ihm nicht gefallen.“
Ruggiero warf ihr einen finsteren Blick zu. Nachdem er die letzten zwei Tage befürchtet hatte, dass er Polly nie wiedersehen würde, waren seine Nerven immer noch zum Zerreißen gespannt.
Er war sich selbst ein Rätsel. Einerseits war seine ganze Sorge
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