5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
entschied, es nicht seinem Desinteresse, sondern seiner Zerfahrenheit zuzuschreiben. Er war ein alter Mann. Und im Grunde kam es ihr sehr gelegen, dass er nicht nachgefragt hatte, denn sie wollte nicht mehr an Evrèl erinnert werden. Sie musste ihn vergessen, dieses Mal für immer.
Als die Kutsche nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sich Jacques und Émine angeschwiegen und ihren düsteren Gedanken nachgehangen hatten, vor den Toren des Grünen Heims hielt, klopfte Émines Herz in freudiger Erwartung einer vertrauten Umgebung so laut, dass sie kaum wahrnahm, wie Perien die Tür der Fahrgastzelle aufriss und einen vergnügten Aufschrei ausstieß.
»Hatte ich dir nicht gesagt, dass du schlafen gehen sollst?«, fuhr Jacques den Jungen ungewohnt harsch an. Als er bemerkte, wie verstört dieser den alten Mentor ansah, rang Jacques sich ein Lächeln ab, um seine Worte abzumildern. Dennoch sah Émine etwas in Periens Augen, das ihre Freude dämpfte und ihr stattdessen ein Gefühl des Unbehagens bescherte. Über Periens Gesicht war ein Ausdruck der Sorge und der Angst gehuscht.
»Geh schon vor«, sagte Émine. Sie versuchte, den kleinen Jungen mit sanfter Stimme und einem gezwungenen Lächeln zu beruhigen. Er nickte nur, wandte sich wortlos ab und lief schnellen Schrittes zurück ins Haupthaus. Émine beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Jacques dem Kutscher einige Münzen zusteckte, woraufhin dieser die Peitschen knallen ließ und in der Nacht verschwand.
»Lass uns gehen«, sagte ihr Mentor und reckte seine steifen Glieder. »Es war eine lange Nacht. Du solltest dich ausruhen.«
Émine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich habe keine Zeit für Faulenzerei. Ich muss meine alte Gestalt zurückerlangen.« Sie versuchte, Nachdruck in ihre Stimme zu legen, obwohl ihr menschlicher Körper nach Ruhe verlangte. Sie gähnte.
Jacques schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln. »Ich übernehme die Arbeit für dich. Ich kann in den alten Schriften nach einer Lösung suchen, selbst wenn es die ganze Nacht dauern sollte.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und bugsierte sie sanft in Richtung Tür. »Das ist doch die Aufgabe eines Mentors, nicht wahr? Du solltest dich ausruhen.«
Émine ließ sich widerstandslos von Jacques ins Haupthaus und die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer führen. Ihr Körper schrie nach Schlaf, einer der gravierenden Nachteile des menschlichen Daseins. Sie fühlte sich kaum noch in der Lage, ihrem Mentor zu widersprechen. Morgen, wenn es ihr besser ging, würde sie ihm dabei helfen, die alten Bücher und Schriften nach einer Lösung ihres Problems zu durchforsten. Für heute hatte sie genug erlebt, in diesem Punkt hatte Jacques Recht.
»Bis morgen, mein Engel«, flüsterte Jacques und schloss die Tür hinter ihr. Émine blieb allein zurück. Engel ? Jacques hatte sie in all den Jahren nicht ein einziges Mal so genannt, und es erschien Émine wie eine Beleidigung der Vier Heiligen. Jacques benahm sich äußerst merkwürdig. Émine schüttelte den Kopf.
Sie ging zum Bett, zog die Schuhe aus, streifte sich das üppige Kleid, das mittlerweile vollkommen verschmutzt und zerrissen war, von den Hüften und ersetzte es durch eines ihrer eigenen schlichten Gewänder. Sogleich durchfuhr sie ein wohliger Schauer. Sie hob das zerknitterte Festkleid vom Boden auf und legte es über einen Stuhl. Für die Dauer eines Herzschlags wehte Émine ein Geruch entgegen, der ihr einen Stich versetzte. Dem Kleid haftete noch immer der Duft von Evrèl an, herb und angenehm. Émine wich vor dem Gewand zurück wie vor etwas Giftigem. Sie wollte nicht mehr an Evrèl erinnert werden, nie wieder. Er hatte sie betrogen, wünschte vielleicht sogar ihren Tod. Sie würde das Kleid am Morgen verbrennen.
Das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss herumgedreht wurde, durchschnitt die Stille. Émine fuhr herum, ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie ging zur Tür hinüber und rüttelte an der Klinke, doch sie ließ sich nicht öffnen. Jemand hatte von außen abgeschlossen. Émine schlug ein paar Mal mit der flachen Hand gegen die Tür. »Jacques! Jacques! Was hat das zu bedeuten?« Niemand antwortete ihr. Weshalb schloss er sie hier ein? Das Unwohlsein, das Émine bereits bei ihrer Ankunft verspürt hatte, kehrte zurück, stärker und drängender als zuvor.
Wieder ein Geräusch in der Stille, diesmal ein Scharren, gefolgt von einem leisen Winseln. Émine durchsuchte hastig den Raum mit
Weitere Kostenlose Bücher