5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
ihren Blicken. Neben dem Vorhang in der Zimmerecke hockte Perien. Der Junge hatte die Knie bis unter das Kinn gezogen. In seiner Hand hielt er einen Zettel, den er Émine entgegenstreckte.
»Perien, hast du mich erschreckt«, sagte sie, jedoch ohne dabei anklagend zu klingen. Perien antwortete nicht, sondern wedelte wieder mit dem Zettel.
»Was ist das?«
»Jacques hat diesen Zettel immer wieder gelesen. Er hat furchtbar getobt, mich angeschrien und böse Sachen gesagt, als du fort warst.« Eine Träne glitzerte in Periens Augenwinkel. Émine konnte kaum glauben, was der Junge erzählte, denn sie hatte Jacques stets als einen ruhigen und netten Mann erlebt, der nie die Beherrschung verlor. Émine beugte sich zu dem Jungen hinab und strich ihm über das volle blonde Haar. Dann nahm sie den Zettel aus seiner Hand.
»Du musst es lesen, vielleicht ist es wichtig«, bettelte Perien. Émines Herz schlug kräftig gegen ihre Rippen. Sie hatte den Jungen noch nie so aufgelöst gesehen.
Sie entfaltete das Papier mit zittrigen Fingern. Es handelte sich um eine Rechnung. Die Zahlung ging an Comte Donoit de Bornelle, eine beachtliche Summe. Das musste doch ein Schreibfehler sein, weshalb sollte Jacques dem Grafen Geld zukommen lassen? Der Graf besaß doch selbst mehr als genug davon. Ihr Mentor hingegen verfügte über keine finanziellen Mittel, schon gar nicht in diesem Umfang! Die Erkenntnis fraß sich wie Säure durch Émines Verstand. Konnte es möglich sein, dass man ein perfides Spiel mit ihr spielte? Dass der Graf sie am Ende gar nicht aus Eifersucht in den menschlichen Körper gesperrt hatte? Hatte ihn jemand dafür bezahlt? Eine Woge der Übelkeit durchflutete Émine. Sie zitterte.
Langsam drehte sie den Zettel um. Auf der Rückseite waren handschriftlich eine Reihe von Namen vermerkt, darunter auch der von Jacques und … Evrèl. Émine hätte am liebsten laut aufgeschrien, doch sie wollte sich vor dem Jungen nicht beunruhigt zeigen, deshalb unterdrückte sie ihre Panik. Sie wollte gerade den Mund öffnen, um Perien mit ein paar hohlen Worten zu besänftigen, als sie erneut das klickende Geräusch des Türschlosses vernahm. Binnen eines Augenblicks war Perien unter das Bett gehuscht. Émine zwang sich, ihre Angst zu verbergen und gefasst in Richtung Tür zu blicken, als diese sich öffnete und Jacques hereinkam. Er kam aufrecht und festen Schrittes auf sie zu, keine Spur von Gebrechlichkeit war ihm mehr anzumerken.
»Was hast du vor?«, fuhr Émine ihn an. Sie sah keinen Grund mehr zur Freundlichkeit.
Jacques antwortete nicht sofort, sondern packte sie unsanft am Arm und zerrte sie hinaus auf den Flur. Er war kräftiger, als Émine es ihm zugetraut hatte. Den gebrechlichen Mann hatte er offensichtlich nur gespielt.
»Sie sind jetzt alle eingetroffen«, sagte Jacques. Auch seine Stimme klang seltsam verändert, tiefer und kälter.
»Wer? Die Leute, die du auf deine Liste geschrieben hast?« Émine versuchte, sich von ihrem Mentor loszureißen, doch er packte sie an den Schultern und rüttelte sie unsanft, bis sie ihr Genick schmerzte. »Ja«, stieß er hervor. »Zumindest die, die davon noch übrig sind.«
Er schob Émine grob den Flur entlang und die schmale Treppe hinauf, die aufs Dach hinausführte.
»Was soll das?« Émine bemühte sich um eine feste Stimme, doch sie klang in ihren eigenen Ohren wenig überzeugend. Sie trat nach Jacques’ Schienbein, traf jedoch nur Luft. Die Bewegungen des alten Mannes waren schnell, schneller als in ihrer Erinnerung. Er wich zur Seite aus, machte dann einen Schritt auf sie zu und schlang seinen Arm in einer blitzschnellen Bewegung um ihren Hals, sodass ihr Kopf in seiner Armbeuge eingeklemmt war. »Wenn du dir nicht selbst wehtun willst, gibst du jetzt besser Ruhe«, flüsterte er nahe an ihrem Ohr. Émine rang nach Luft, denn Jacques’ Unterarm drückte auf ihre Kehle. Sie brachte nur ein angedeutetes Nicken zustande.
»Gut, dass wir uns verstanden haben.«
Am oberen Ende der Treppe öffnete Jacques eine hölzerne Klappe in der Decke. Er stieß sie schwungvoll und mit einer Leichtigkeit auf, als wiege sie nicht mehr als eine Feder. Ein kühler Luftzug schlug Émine entgegen. Jacques stieß sie unsanft durch die Öffnung in der Decke. Im Sommer hielt sie sich oft oben auf dem Dach des Haupthauses auf, denn es bot einen wundervollen Ausblick auf das kleine Wäldchen hinter dem Garten. Jetzt, mitten in der Nacht, ließ die Dachterrasse jedoch jegliche Freundlichkeit
Weitere Kostenlose Bücher