5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
was mein Körper bereits erkannt hat: Ich bin die Einzige, die atmet. Die Frau vor mir auf dem Waldboden ist wahrhaftig tot. Ich hole ein zweites Mal tief Luft … und schreie, so laut ich kann.
Langsam, ganz langsam gehe ich rückwärts. Einen Fuß nach dem anderen. Ich kann den Blick nicht von ihren kalten Lippen lösen. Ihr Name ist Anna. Ich kenne sie, sie ist in meinem Rudel. Wir sind nicht befreundet. Ich weiß nicht mal ihren Nachnamen. Aber sie gehört zu meinem Rudel. Und sie ist …
Plötzlich spüre ich große Hände an meinen Schultern. Sie halten mich. Ich setze zu einem weiteren Schrei an, doch dann legt sich eine dieser Hände über meinen Mund. Ich lehne mich zurück. Ein muskulöser Oberkörper, ein mir bekannter Geruch, und dann die Erkenntnis: Keenan.
Erleichterung durchflutet mich, und ich lasse mich ganz fallen. Keenan nimmt die Hand von meinem Mund und stützt mich. Er gibt mir noch einen Moment der Ruhe, dann sagt er: »Die anderen kommen gleich. Sie werden sich um sie kümmern. Du solltest nach Hause gehen.«
»Sie ist tot.«
»Ich weiß.«
»Wer … ?«
»Keine Ahnung. Aber wir werden es herausfinden. Jetzt geh nach Hause!«
Ein Befehl. Keenan gibt mir immer Befehle. Meistens befolge ich sie. Er ist älter, dominanter. Außerdem ist er das zukünftige Alphatier. Doch heute habe ich keine Lust, das brave Schoßhündchen zu spielen: »Nein.«
Eine Sekunde lang ist es sehr still, dann ein wütendes Schnaufen. »Gut. Dann bringe ich dich nach Hause.«
Blitzschnell ducke ich mich und winde mich aus seinem festen Griff. Wir stehen uns gegenüber. Fassungslosigkeit zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Keenan ist es nicht gewohnt, dass man sich seinen Befehlen widersetzt.
Nun sehe ich auch die anderen Krieger, die mit großer Geschwindigkeit auf uns zukommen. Unter ihnen ist Elias, das aktuelle Alphatier. In unserem Rudel gibt es insgesamt zehn Krieger, Keenan eingeschlossen. Die drei Krieger, die Elias begleiten, sind die Zwillinge Rian und Rick und Felix. Elias tritt vor mich und sieht mir fest in die Augen. In seinem Blick ist immer eine Härte, von der ich gerne wüsste, woher sie kommt, denn wenn sie von seinem Posten als Alphatier herrührt, blüht sie auch Keenan.
»Lana, wann genau hast du sie entdeckt?« Ganz sachlich klingt seine Stimme. Ich versuche genauso sachlich zu antworten, bringe aber nur ein zittriges »Zehn Minuten« zustande.
»Keenan, bring deine Gefährtin nach Hause und sorg dafür, dass sie sich wieder beruhigt«, befiehlt Elias, während er an mir vorbei auf die tote Frau zugeht.
Rian und Rick folgen dem Alphatier, während Felix telefoniert. Er ruft bestimmt Katharina an, denke ich. Sie ist Gerichtsmedizinerin und arbeitet in einer Klinik in München. Außerdem hat sie auch Erste-Hilfe-Kenntnisse. Sie ist die Ärztin unseres Rudels und wird in solchen Situationen als Erstes angerufen.
»Kommst du?«, höre ich Keenans Stimme sagen.
Als ich aufsehe, wird mir schwindelig. »Atmen!«, flüstere ich und folge Keenan, der sich umgedreht hat und wütend fortgeht.
Eine Weile sagen wir beide nichts, bis er das Wort ergreift: »Wir werden den Mistkerl finden, der das getan hat.« Gewissheit spricht aus seiner Stimme.
»Woher willst du wissen, dass es ein Mann war?« Meine Stimme hört sich hohl an. Ich sehe Keenan an. Seine Stirn ist wütend gerunzelt. Der sonst so sinnliche Mund ist ein harter Strich, und die dunkelbraunen Augen sind schwarz vor Zorn.
»Egal, wer es war, wir finden ihn«, antwortet er vor Zorn schnaubend.
Unser Rudel ist für ein Raubtierrudel ziemlich groß. Siebenundfünfzig Mitglieder. Nein … sechsundfünfzig.
Wir leben in einem kleinen Wald, mit dem Auto eine halbe Stunde von München entfernt, wo auch die meisten von uns arbeiten. Unsere Häuser stehen weit genug entfernt, damit jeder sein eigenes Leben führen kann. Andere Gestaltwandlerarten, wie zum Beispiel Pferde, leben in einem engeren Verbund, doch Raubtiergestaltwandler brauchen ihren Freiraum. Meine Gepardin würde es nicht ertragen, eingesperrt zu sein.
Wir sind eigenständige Personen und doch irgendwie eine Familie. Wir sorgen füreinander.
»Wir sind da.« Keenans Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich habe nicht gemerkt, dass wir schon bei mir angekommen sind. Mein Haus ist eine kleine Hütte mit weißen Wänden und dunkelblauen Fensterrahmen. Rechts neben der ebenfalls blauen Tür wachsen Sträucher an der Wand empor. Ich bin sehr stolz auf meine Hütte, die ich
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