5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Perfektion eines Lebens letztendlich mit meiner Beförderung, sodass ich nun die erste Leiterin eines Seelenfängerinstituts auf der ganzen Welt war. Mit anderen Worten: Ich hatte mein Privatleben gegen ein hübsches Büro eingetauscht, also blieb mir nur zu hoffen, dass der Sensenmann sich noch lange Zeit ließ, denn ein Büro mit dem Schildchen Grace Darcy war etwas, auf das ich nur ungern verzichten wollte.
Wahrscheinlich würde ich das allerdings auch nie müssen. Genau genommen war ich der Sensenmann, obwohl diese Bezeichnung eine absolute Frechheit ist. Zugegeben, es gibt in jeder Kultur Sagen und Mythen; einige haben wir Seelenfänger über die Zeit sogar selbst verbreitet, doch die vom Sensenmann ist bei aller Liebe die absolut lächerlichste. Sensenmänner, Dämonen, Hexen, Zauberer, Geister …
Ich bevorzuge die Bezeichnung Seelenfänger , auch wenn Dämonen wahrscheinlich treffender wäre. Doch bitte, jeder schummelt bei seiner Berufsbezeichnung, oder gibt es wirklich einen Unterschied zwischen Facility Managern und Hausmeistern ? Um es kurz zu fassen: Ich war nach weltlicher Ansicht eine von der ganz bösen Sorte. So richtig böse. Diese Art von Nein-mein-Kind-mit-diesem-Mädchen-spielst-du-nicht -böse. Gut, ich muss gestehen: Früher war es einfacher, eine von den Bösen zu sein. Ich musste nur Befehle ausführen, was leicht war. Altersschwäche, Pubertät. All diese Phänomene, für die es in den Naturwissenschaften keine einheitliche Erklärung gibt, fallen in unseren Zuständigkeitsbereich. Wir stehlen Träume und Fantasien von Jugendlichen und bringen sie dann zu den Neugeborenen, genau wie wir es sind, die den Kindern zum Austausch die Reife überlassen, welche wir von den Verstorbenen erhalten. Und die Pubertät setzt nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein, weil wir nun mal nicht UPS sind. Wir können nicht überall gleichzeitig sein.
Der weitaus unangenehmere Teil der Aufgabe, die Gott uns anvertraut hat, ist die Sache mit der Altersschwäche. Eigentlich ist das unsere Erfindung, weshalb wir bei Ihm auch nicht mehr das beste Ansehen genießen. Ursprünglich haben wir von oben immer Listen mit Menschen bekommen, die sterben müssen. Jung oder alt, krank oder gesund. Wir haben es nie infrage gestellt. Es klingt vielleicht ein wenig, als ob wir himmlische Auftragskiller gewesen wären oder dergleichen. Doch wir erfüllten nur die Aufgaben unseres Herrn, was einfach richtig sein musste. Eines Tages unterlief uns jedoch ein furchtbarer Fehler.
Der damalige Leiter des Instituts in Deutschland, ein rückblickend betrachtet vollkommen unfähiger und inkonsequenter Taugenichts, brachte es nicht über sich, die Seele eines jungen Soldaten bei einem Bombardement im Ersten Weltkrieg einzuziehen, wie es ihm eigentlich aufgetragen worden war. Schon alleine die Tatsache, dass er als Leiter eines Instituts mit einer solch alltäglichen Aufgabe – eines niederen Seelenfängers würdig – beauftragt wurde, hätte ihn von der Wichtigkeit dieser Angelegenheit überzeugen müssen. Doch als er den Soldaten sah, schaffte er es nicht, seine Seele ins Jenseits zu leiten, und ließ ihn am Leben, was eine direkte Verweigerung des Befehls von ganz oben war.
Das ganze Ausmaß der Sache wurde erst Jahre später deutlich, als besagter Soldat einen zweiten, viel größeren Krieg nie dagewesenen Ausmaßes entfesselte und die gesamte Welt brannte. Diese Sache mit dem freien Willen erweist sich immer wieder als suboptimal, wenn Sie mich fragen.
Gänzlich hat der Boss uns Seelenfängern diesen epochalen Fehler niemals verziehen, was ich nur allzu verständlich finde. Anstatt uns jedoch sämtliche Aufgaben abzuerkennen und uns in schattenähnliche Kreaturen zu verwandeln, sind wir seit jenem Tag dafür verantwortlich, den gesamten Papierkram selbst zu erledigen. Wir erhalten nur noch Zahlen, mehr nicht. Zahlen, die der Anzahl von Menschen entsprechen. Menschen, die sterben müssen. Das Auswählen bleibt uns überlassen, genau wie die Konsequenzen.
Natürlich töten wir nicht wahllos irgendwelche Menschen, so weit kommt es noch! Eine Seele einzufangen und ins Jenseits zu leiten, ist weitaus komplexer. Es gibt immer Menschen, die ihres Daseins überdrüssig sind und deren Seelen geradezu nach uns schreien. Diese Seelen sind leicht einzufangen. Es ist sogar gut, wenn es uns gelingt, sie einzufangen, ehe diese Menschen sich von Brücken stürzen oder dergleichen. Schwerer wird es dann, wenn der besagte Mensch fest am Leben
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