5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Waschbecken fest, und ich schnappte laut nach Luft. Es kam einem Wunder gleich, dass ich nicht völlig ausrastete – denn ich blickte in das Gesicht einer völlig Fremden!
Schwarzes Haar umrahmte dieses Gesicht, das ich nun mit beiden Händen abtastete. Ich kniff wie von Sinnen in diese fremde Haut und zuckte vor Schmerz zusammen. Ich zog Grimassen. Mein Spiegelbild tat dasselbe.
Okay. Alles war gut. Das konnte nur ein Traum sein. Einer dieser Träume, in denen einem bewusst war, dass man eigentlich schlief. Doch ich war wach, und das hier war leider viel zu echt.
Ein Blick nach unten auf meinen Körper sorgte für einen weiteren Schocker, denn ich sah völlig anders aus! Die Proportionen waren zwar ähnlich wie früher, aber meine Haut war total blass. Sie war sogar so hell, dass die Venen durchschimmerten. Ich sah aus wie ein Vampir. Großer Gott, war ich jetzt etwa so eine Art Vampir? Oder schlimmer noch: ein willenloser Zombie, der gerade erst aus dem Grab auferstanden war?
Ich raufte mir die Haare und sah das Entsetzen in meinen geweiteten Augen. Gott sei Dank war meine Augenfarbe nicht hungrig und blutrot, sondern irgendwie blaugrau. Es war eine schöne Farbe, die ich sicher mehr zu würdigen gewusst hätte, wenn ich nicht völlig in Panik gewesen wäre.
Ich rannte zurück ins Schlafzimmer und sah mich um. Alles sah anders aus. Das hier war nicht mein Zuhause. Wieso war mir das nicht vorhin schon aufgefallen? Wo war ich hier nur gelandet?
Instinktiv griff ich nach dem Handy auf dem Nachttisch und wählte die Nummer meiner Schwester. Eine monotone Stimme erklärte mir, dass diese Rufnummer nicht mehr vergeben wäre. Wie konnte das sein? Ich unterbrach die Verbindung und wählte Joshs Nummer. Diesmal klingelte es. Während ich in dem kleinen Schlafzimmer auf und ab lief, wartete ich darauf, dass Josh endlich abnahm.
»Komm schon, Josh«, murmelte ich ungeduldig vor mich hin und bearbeitete dabei meine Unterlippe mit den Zähnen.
Ein Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Die Haustür. Woher wusste ich, dass es die Haustür war? Oder dass mein Handy im Schlafzimmer lag? Woher wusste ich überhaupt, wo das Bad war und dass ich eine Treppe nach unten nehmen musste, die direkt in den Eingangsbereich und damit zur Tür führte? Ich war noch nie im Leben hier gewesen!
Ich rannte die Stufen hinunter, das Handy noch immer am Ohr. Nichts. Niemand nahm ab. Verfluchter Mist!
Ich riss die Haustür auf, obwohl mir im selben Moment der Gedanke durch den Kopf schoss, dass die hereinfallenden Sonnenstrahlen mich töten könnten – falls ich ein Vampir war. Zu spät. Das helle Tageslicht blendete mich, doch ich verbrannte nicht. Meine Haut begann weder, wie tausend Diamanten zu glitzern, noch, sich brennend und qualmend aufzulösen. Ich war am Leben. Unfassbar und unglaublich lebendig.
»Sind Sie Miss Livingston?«, fragte eine mir unbekannte männliche Stimme, die ich, nachdem ich mich ein wenig gefasst hatte, bald dem Postboten zuordnen konnte. Ich nickte stumm. Was sollte ich auch sagen? Dass ich keine Ahnung hatte, wer ich war, gerade aber in einem völlig fremden Körper und einem fremden Leben aufgewacht war? Keine Chance.
Mit zittrigen Händen unterschrieb ich und nahm den Brief entgegen. Eve Livingston stand darauf. Die Adresse darunter kannte ich nicht, ich kannte ja noch nicht einmal diesen Ort oder dieses Haus. Ganz zu schweigen von diesem fremden, neuen Leben.
Von einer plötzlichen Entschlossenheit gepackt, warf ich den Brief auf den Tisch, stürmte nach oben und zog mich um. Ich musste herausfinden, was geschehen war. Ich musste mein altes Leben wiederfinden.
Vier Stunden später fuhr ich zu dem Haus, in das Josh und ich gemeinsam hatten einziehen wollen. Ich wagte nicht, aus dem Auto zu steigen und hinüberzugehen, als ich plötzlich die Frau sah. Durch die dunkel getönten Gläser meiner Sonnenbrille beobachtete ich eine junge, schlanke Blondine, die gerade einen kleinen Karton von der Ladefläche ihres Pick-ups hob und mit wehendem Rock den Steinweg entlangging, der zum Haus führte.
Es sah noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Rot und mit dunklen Dachziegeln, weißen Balken und großen Fenstern. Auf der Terrasse vor dem Haus blühten bunte Blumen, die ich letztens erst gepflanzt hatte. Blumen, die jetzt anscheinend jemand anderen willkommen hießen. Diese Verräter.
Die schick gekleidete Blondine kam zurück, und jetzt erkannte ich sie. Sie war mir einmal auf einer Veranstaltung
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