5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
die Geräusche um mich herum wahr. Da war Vogelgezwitscher. Nicht das übliche morgendliche Gepiepe, sondern ein wohlklingendes Zwitschern. Nett. Aus der Ferne meinte ich ein leises Plätschern zu hören. Ein Bach? Oder das Geräusch irgendwelcher Geräte, an die ich angeschlossen war?
Nach und nach fiel mir ein, was geschehen war. Grandmas Tod. Die Beerdigung. Das Auto.
Ich schlug die Augen auf. Das Licht war noch immer sehr hell und schmerzte in meinen Augen. Ich stöhnte kurz auf, blieb aber standhaft. Nach mehrmaligem Blinzeln konnte ich etwas erkennen, doch statt der erwarteten weißen Krankenhausdecke sah ich nur Blau. Hellblau mit getupften weißen Flecken. Der Himmel.
Mühsam richtete ich mich auf. Jeder Muskel tat mir weh, doch wegen des Unfalls hätte es eigentlich noch viel schlimmer sein müssen. Ich blickte an mir hinunter. Keine Verletzungen. Kein Blut. Und statt des schwarzen Trauerkleides mit den hohen Schuhen trug ich nun ein weißes Kleid und flache Schuhe.
Was mich jedoch viel mehr überraschte als meine Kleidung, war die Tatsache, dass ich weder blutüberströmt auf der Straße noch mit Verband in einem Krankenhaus lag, sondern auf einer grünen Wiese. Es war ein Grashalm, der sich in einer sanften Windbrise bewegte und mein Knie gekitzelt hatte.
Jetzt konnte ich auch den Geruch erkennen, der mir vom ersten Moment an in die Nase geströmt war. Kein Krankenhausgeruch. Es duftete nach Äpfeln. Als ich aufstand und mich umsah, bemerkte ich einen großen Apfelbaum, der diesen intensiven Geruch verströmte. Weiter vorne neben einer Holzbank stand ein weiterer Apfelbaum und streckte schützend seine Zweige über die Bank.
Ich kannte diesen Ort. Er war mir auf eine so intensive Weise vertraut, dass mein Herz zu rasen begann und sich in meinem Innern schmerzhaft etwas zusammenzog. Dies war der Garten meiner Großeltern, in dem ich als Kind unzählige Stunden verbracht hatte.
»Hallo, Liebes.«
Die vertraute Stimme hinter mir ließ mich erstarren. Hatte mein Herz eben noch gerast, drohte es jetzt förmlich zu explodieren, so schnell pochte es in meiner Brust. Unwillkürlich musste ich schlucken. Das konnte nicht sein …
Ruckartig drehte ich mich um – und mir blieb fast die Luft weg. »Grandma!«
Augenblicklich spürte ich, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Einige Sekunden lang musste ich heftig gegen den plötzlichen Schwindel und die Übelkeit ankämpfen, doch dann hatte ich mich wieder so weit im Griff, um aufsehen zu können. Nichts hatte sich verändert. Dort stand immer noch meine Großmutter – so frisch und gesund, wie ich sie in Erinnerung hatte, ihr langes, weißes Haar zu einem Dutt hochgesteckt und mit tiefen Lachfalten im Gesicht.
»Granny«, wiederholte ich atemlos. Ich fasste mir an die Brust, die plötzlich so wehtat. Gleichzeitig spürte ich aber auch eine unsagbare Freude in mir, den geliebten Menschen wiederzusehen, den ich vor so kurzer Zeit auf grausame Weise verloren hatte.
»Was ist passiert? Träume ich?«, fragte ich mit belegter Stimme, ohne den Blick von ihr abwenden zu können. Grandma trug ihr weites Lieblingskleid mit dem Blumenmuster. Genauso hatte ich sie mir in meiner Kindheit eingeprägt.
»Ich fürchte nicht, meine Kleine.« Es tat so unsagbar gut, ihre Stimme zu hören, auch wenn etwas im gleichen Moment tief in mein Innerstes schnitt. Ich konnte die blutende Wunde zwar nicht sehen, doch konnte ich sie fühlen. Merkwürdig, da ich doch bis vor Kurzem gar nichts mehr gespürt hatte.
Als ich sie fragen wollte, wo wir hier waren, wenn dies kein Traum war, ließ mich ihr Gesichtsausdruck innehalten. Das zärtliche Lächeln verschwand und an dessen Stelle trat ein bekümmerter Zug. Die tiefbraunen Augen wirkten auf einmal unendlich traurig.
»Kara, du … «, begann sie und ergriff meine Hände, »du bist gestorben.«
Es heißt immer, man würde ein strahlend weißes Licht sehen oder über seinem Körper schweben. Und es gäbe einen langen, engen Tunnel, durch den man hindurchmüsse, um auf die andere Seite zu gelangen, oft sogar in Begleitung von bereits verstorbenen Verwandten oder Freunden.
Ich erlebte nichts dergleichen. Kein Licht, kein Schweben und keinen verdammten Tunnel. Ich war von einem auf den anderen Moment brutal aus meinem Leben gerissen worden. Vermutlich war da keine Zeit für einen sanften Übergang gewesen, oder denen da oben war es schlichtweg egal. War es da ein Wunder, dass ich mich gegen die Vorstellung wehrte, tot zu
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