5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Sonne schien wärmend auf mich herab und erinnerte mich daran, dass Frühling war. Ich zog meine Jacke aus und legte sie mir über den Arm, während ich noch immer auf den hellen Stein starrte. Als ich gestorben war … nein, bei Grandmas Trauerfeier, war tiefster Winter gewesen. War ich wirklich mehrere Monate lang tot gewesen und erst jetzt zurückgekehrt? War vielleicht sogar noch mehr Zeit vergangen? Nur weil jemand dort oben einen Fehler gemacht, mich hatte sterben lassen und jetzt versuchte, dieses Malheur wiedergutzumachen, indem er mich in einen anderen Körper und in ein anderes Leben verpflanzt hatte?
Seit ich zurück war, hatte ich keine einzige Träne vergossen. Ich konnte nicht trauern. Nicht um Grandma und nicht um mich. Um mein altes Leben, meine Familie, meine Freunde. Um Josh. Statt Trauer sammelte sich jetzt Wut in meinem Bauch, ballte sich heiß und schmerzend zusammen und ließ mich erzittern.
Meine Hand sank herab, doch es war, als könnte ich den von der Sonne erwärmten Stein noch immer unter meinen Fingerspitzen fühlen. Mein Blick fiel auf die Blumen. Sie waren höchstens ein paar Tage alt, doch ihre Köpfe hingen bereits herab. Was einmal reinstes Weiß gewesen sein musste, sah nun welk und vergilbt aus. Es waren Lilien. Meine Lieblingsblumen.
Ich musste schlucken. Die konnten nur von Mia sein.
Ein langer Schatten tauchte plötzlich neben mir auf, dann die dazugehörenden Schuhe, welche nur einem Mann gehören konnten. Für einen Moment hoffte ich, dass es Josh war, er mich erkannt hatte und mir gefolgt war. Bei dem Gedanken daran schlug mein Herz für den Hauch einer Sekunde schneller. Mein Blick wanderte nach oben, über eine dunkle Jeans zu einem hellen T-Shirt und weiter hinauf zu einem Gesicht, das ich zwar kannte, das mir aber nicht vertraut war.
»Sie?« Meine Stimme klang brüchig. Ich hielt mir die Hand über die Augen, um sie gegen die Sonnenstrahlen abzuschirmen.
»Hallo Kara«, sagte er leise, beinahe schon bedauernd. Der Mann, den ich vor einer knappen Stunde erst vor Joshs Haus gesehen hatte. Den ich aus Versehen angerempelt hatte und der mir zu dem Zeitpunkt bereits irgendwie bekannt vorgekommen war.
»Wie … ?«, begann ich, hielt jedoch inne. Hatte er mich gerade Kara genannt?
Die Wut in meinem Inneren verwandelte sich so schnell in Eiseskälte, dass ich unwillkürlich die Luft anhielt. Woher wusste er meinen richtigen Namen? Weder hatte ich mich ihm vorgestellt noch sah ich ansatzweise so aus wie früher. Wie um das zu überprüfen, blickte ich auf meine Hände hinab. Die Hände einer Fremden. Die Narbe einer Fremden. Das war nicht ich. Woher kannte dieser Typ mich?
Er ging nicht auf meine verwirrte Reaktion ein. Selbst mein fassungsloser Blick brachte ihn nicht aus dem Konzept. Stattdessen trat er näher an mein Grab heran und legte einen Strauß frischer Blumen dorthin. Weiße Blumen. Lilien.
»Woher wussten Sie … ?«, krächzte ich und kämpfte gegen den heftigen Drang in mir an, auf der Stelle wegzurennen.
Erst nachdem er einen Moment in Ruhe auf mein Grab geblickt hatte, richtete er sich auf und sah mich an.
»Mein Name ist Noah«, stellte er sich vor und hielt mir die Hand hin. Zögernd ergriff ich sie. Seine Hand fühlte sich angenehm und tröstend an. Tränen brannten in meinen Augen, und in meinem Handgelenk begann ein leises Ziehen. Diesmal war es jedoch nicht wie Feuer, sondern eher wie kühles Wasser, das sich auf die brennenden Wunden meiner Seele legte und den Schmerz für einen flüchtigen Augenblick linderte.
Als Noah nicht losließ, blickte ich unwillkürlich auf unsere beiden Hände. Meine Augen wanderten weiter, und da erkannte ich es auf seinem Handgelenk: das Symbol, die Narbe, wie eine umgefallene Acht.
»Wer bist du?« Meine Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern, während ich das Gefühl seiner Hand in meiner genoss. Ein tröstendes und wohltuendes Gefühl, als würden sich alle Wogen und Stürme in meinem Inneren nach und nach beruhigen.
»Dasselbe wie du«, sagte Noah nach einem Moment. »Ein Zurückgesandter.«
Ruckartig entriss ich ihm meine Hand und stolperte zurück, bis ich gegen einen Grabstein stieß. »Was … «, begann ich und schüttelte fassungslos den Kopf, »was hast du eben gesagt?«
Das konnte unmöglich wahr sein. Die Tatsache, dass ich nach meinem Tod zurückgeschickt worden war, war schon verrückt genug – aber es gab da noch jemanden wie mich? Noch jemanden, dem es ähnlich ergangen war?
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