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5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)

5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)

Titel: 5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: e-book LYX
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Unwillkürlich drängte sich mir die Frage auf, ob Noah und ich keine Einzelfälle im Universum waren. Wie viele Menschen liefen dort draußen wohl herum, die dieselbe Narbe am Handgelenk trugen und jetzt ein neues, ein vollkommen anderes Leben lebten?
    Wieder schüttelte ich ungläubig den Kopf, konnte nicht glauben, was ich da sah, was ich allein schon dachte. Jeder, der meine Gedanken läse, würde mich in eine Anstalt einweisen lassen. Vermutlich sogar zu Recht. Vielleicht hatte der Unfall schlimme Schäden in meinem Gehirn hinterlassen, und alles war nur eine Wahnvorstellung von mir.
    »Ich bin ein Zurückgesandter. Man hat mich nach meinem Tod ins Leben zurückgeschickt«, wiederholte der Fremde.
    Immer noch weigerte ich mich, seinen Worten zu glauben. Aber wenn es tatsächlich keine Fantasie und auch kein schräger Albtraum war, was dann? Und warum passierte gerade mir das alles? Nie hatte ich an Übernatürliches geglaubt, an Gott oder ein Leben nach dem Tod.
    »Ich weiß, du bist verwirrt.« Noah betrachtete mich mitfühlend.
    Das war noch untertrieben. Seinem Blick hielt ich nicht lange stand und wandte mich wortlos ab. Statt ihn anzusehen, starrte ich auf meinen Grabstein, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen.
    »Du bist nicht alleine, Kara. Ich kann dir helfen.« Er trat neben mich. Vorsichtig. Als hätte er Angst, ich könnte auf der Stelle weglaufen. Wahrscheinlich war diese Sorge gar nicht mal so unbegründet.
    Ich schniefte leise. Hatte ich bis eben weder über Grandmas Tod noch über mein eigenes Ableben oder diesen ganzen Irrsinn hier weinen können, traten ausgerechnet jetzt die Tränen in meine Augen. Es war einfach zu viel. Wie konnte ein einzelner Mensch so etwas bewältigen? Und wie konnte wer auch immer dort oben glauben, mir einen Gefallen damit zu tun, mich zurückzuschicken? Nachdem derselbe Jemand anscheinend einen fatalen Fehler gemacht hatte?
    Zitternd stieß ich die Luft aus, die ich unbewusst angehalten hatte. Ich blinzelte einige Male, bis mein Blick wieder klar wurde. Erst dann sah ich zu Noah, der neben mir stand und auf mein Grab hinabblickte. Jetzt wandte er sich mir zu. Seine Augen waren aufmerksam. Geduldig. Er schien es tatsächlich ernst zu meinen.
    Früher wäre ich nie mit einem Fremden mitgegangen, noch dazu mit einem Mann, von dem ich nur den Vornamen kannte. Gleichzeitig war er aber auch der Einzige, der meine Identität kannte und wusste, was ich durchgemacht hatte. Denn er hatte anscheinend dasselbe erlebt wie ich. Wenn es tatsächlich die Wahrheit war …
    »In Ordnung«, nickte ich, nahm mir aber noch ein paar Sekunden, um ihn zu mustern und ganz sicherzugehen. Er ließ es zu, hielt meinem Blick stand. Wieder überkam mich das seltsame Gefühl, dass er mir irgendwie vertraut war. Als würde ich ihn kennen, nur konnte ich mich einfach nicht erinnern.
    »Lass uns woanders hingehen. Keine Sorge«, er hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste, »ich habe nicht vor, dich zu entführen und deine Situation auszunutzen. Ich weiß genau, was du gerade durchmachst, glaub mir.«
    Nicht seine Worte oder der Versuch, die Situation etwas aufzulockern, ließen mich ihm Glauben schenken. Es war die Art, wie er es sagte. In seinen Worten schwang eine leise Bitterkeit, ein Schmerz mit. Vielleicht wusste er wirklich, was gerade in mir vorging. Warum mein Leben so plötzlich Kopf stand und wie ich alles wieder in Ordnung bringen konnte. Doch noch war ich nicht bereit dazu, mit ihm zu gehen.
    »Warte.«
    Noah sah mich fragend an, aber ich ließ mich nicht beirren. Ich beugte mich zu den Blumen auf meinem Grab hinunter und zupfte eine Lilie aus dem Strauß. Mit der Blume in der Hand ging ich einige Meter weiter zu jenem Grab, das ich bisher gemieden hatte. Es war verrückt, aber es fiel mir leichter, vor meinem eigenen Grab zu stehen als vor dem meiner Großmutter.
    Den Grabstein hatte ich selbst ausgesucht, und auch den Platz hatte ich mir bereits angeschaut. Doch nun stand ich zum ersten Mal vor ihrem richtigen Grab. Es tat weh, dass ich nicht bis zum Ende der Trauerfeier hatte dableiben können. Obwohl mir bewusst war, dass ich nichts dafür konnte – schließlich war ich gestorben – , fühlte ich mich irgendwie schuldig. Viel schmerzvoller war allerdings der Gedanke, dass sie nicht mehr da war, dass ihre Überreste dort unten lagen und ich sie nie mehr lachen sehen, nie mehr mit ihr reden würde.
    Evelyn Dunn. Ihr Name auf dem Stein verschwamm vor meinen Augen und

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