5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
an der Tür, die sich gleich darauf einen Spaltbreit öffnete. »Komm herein«, sagte Émine. Perien betrat den Raum. Er hielt den Blick gesenkt und sah beschämt zu Boden. Er musste sich erst noch an seine Aufgabe als Mentor eines Eluvirs gewöhnen. Émine empfand keine Scham, auch nicht gegenüber Jacques. Der Mann war lediglich zu kränklich, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein. Wann immer man ihn berührte, schien er unter Schmerzen zu leiden.
»Sieh mich an und hilf mir in das Kleid«, sagte Émine. Der Junge hob nur zaghaft den Blick, gehorchte jedoch. Er half ihr, das opulente Gewand anzulegen und es am Rücken zu verschließen. Émine fühlte sich, als hätte man sie in einen Käfig aus Stoff gesperrt. Die Schwere des Kleides ließ sie beinahe in die Knie gehen.
Abermals läutete eine Kirchenglocke in der Ferne. Beinahe zeitgleich hörte Émine das Poltern von Wagenrädern und das Schnauben von Pferden. Sie ging zum geöffneten Fenster herüber und spähte auf den Hof. Eine reich verzierte Kutsche, die von zwei schneeweißen Rössern gezogen wurde, hielt vor der Tür des Grünen Heims . Hastig kramte sie in einer Schatulle, die auf dem Schreibtisch in der Zimmerecke stand, und förderte eine silbern schimmernde Haarnadel zutage, die sie in ihrem üppigen Haar befestigte. Natürlich würden all die feinen Hofdamen wunderschöne Perücken und aufwendige Hüte tragen, Émine jedoch machte sich nichts aus derlei Dingen. Sie trug dieses Kleid einzig, um dem Grafen eine Freude zu bereiten, und nicht, um am Schaulaufen der Aristokraten teilzunehmen. Sie entließ Perien aus seiner Pflicht und machte sich auf den Weg in den Hof, wo die edle Kutsche sie erwartete.
3
Es war ein wunderschöner Sommerabend. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und warf lange Schatten über das Kopfsteinpflaster. Malerisch reihten sich die reich verzierten Prachtbauten, die Émine auf der anderen Seite des Flusses erspähte, wie Perlen auf einer Schnur aneinander. Die ganze Fahrt über hatte sie aus dem Fenster gesehen und die herrlichen Fassaden bestaunt, denn Émine war noch nie zuvor so weit ins Innere der Stadt vorgedrungen, erst recht nicht in die teuren Quartiers von Paris. Sie war eine Heilerin der Armen, und arm schienen die Bewohner des vierten Arrondissements beileibe nicht zu sein. Émine hatte während der letzten Jahrhunderte miterlebt, wie die Stadt sich verändert und immer wieder neu erfunden hatte, und dennoch entdeckte sie stets neue Facetten, die sie in Erstaunen versetzten.
Die Kutsche rumpelte über die Brücke Pont Marie auf die Île Saint-Louis zu. Auf einer benachbarten Insel reckte die Cathédrale Notre-Dame ihre beiden Zwillingstürme der Abendsonne entgegen.
Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, woraufhin die Pferde in einen flotten Trab fielen.
Nach nur wenigen weiteren Minuten, in denen sie diverse gepflegte Häuser und wunderschöne Gartenanlagen passiert hatten, blieb die Kutsche schließlich vor einem dreistöckigen sandfarbenen Gebäude stehen. Die Tür der Fahrgastzelle öffnete sich, und der Kutscher half Émine dabei, mit dem üppigen Kleid die Trittstufe hinabzusteigen. Er deutete eine Verbeugung an und wandte sich ab. Nur einen Atemzug später tauchte ein Mann neben der Kutsche auf, vermutlich ein Hausdiener. Er trug einen seidenen Anzug und blank polierte Absatzschuhe. Sein Gesicht verriet nichts über seinen Gemütszustand. Er zuckte nicht einmal mit den Mundwinkeln, als seine weiß behandschuhten Finger nach Émines Hand griffen. Gemeinsam schritten sie über den schneeweißen Kiesweg bis zum Eingangsportal, das von zwei mächtigen verzierten Steinsäulen eingerahmt wurde. Zwei weitere Männer in tiefgrünen Seidenanzügen standen auf der kleinen Plattform vor der goldenen Flügeltür. Sie warfen Émine nur einen kurzen Blick zu und nickten leicht. Der Diener öffnete die rechte Hälfte der Tür und wies Émine mit einer Handbewegung an, vor ihm einzutreten. Sie kam dem nach und fand sich in einem langen Gang wieder, an dessen Decke – mehr als zwei Manneslängen über ihrem Kopf – drei gläserne Kronleuchter prangten. Der Boden war mit einem edlen roten Teppich ausgelegt. Am Ende des Ganges stand eine Tür offen. Die Stimmen mehrerer Menschen sowie Gelächter und Musik drangen an Émines Ohren. Sie fühlte sich unwohl, denn sie hatte ihre menschliche Gestalt annehmen müssen, um zwischen den Gästen nicht aufzufallen. Jacques hatte sie ermahnt, dass einzig der Graf ihre wahre
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