5 Tage im Sommer
nur siebzehn Minuten. Es war ein hübsches kleines Fertighaus, wie geschaffen für ein Ehepaar im Ruhestand. Das hatte jedenfalls der Makler gesagt. Nicht zu groß, nicht zu klein. Gemütlich, mit einer Veranda für den Sommer. Rundherum winterfest. Jeder Komfort, den man sich wünschen konnte. Was ihn und Ruthie schlussendlich überzeugt hatte, war jedoch, dass es einen Hausmeister gab, der sich um alles kümmerte. John und Ruth wollten nicht mehr Schnee schaufeln oder Gullys säubern. Außerdem lag Roger Bells Haus nur zwei Straßen weiter.
Geary parkte in der Auffahrt, statt in die Garage zu fahren. Er würde nur ein paar Minuten bleiben. Dann schloss er die Vordertür auf und ging direkt zu seinem Schreibtisch im Wohnzimmer. Das Chaos darauf war Geary vertraut, er wusste genau, wo er suchen musste. Die Akte, die ihn interessierte, lag auf der linken Seite, zwischen einem übergroßen Straßenatlas und Ruths letztem Tagebuch, in dem so viele Seiten frei geblieben waren. Auf den blassgrünen Umschlag hatte sie einen Zweig Dill gezeichnet, ihr Lieblingsgewürz. Er hatte noch nie in ihrem Tagebuch gelesen und würde es auch niemals tun. Doch er hatte es gern in Reichweite.
Die Akte kam aus der Wache in Woods Hole, sie enthielt nicht viel, nur ein paar Fälle aus den zurückliegenden Jahren. Doch einer von ihnen war ihm im Zusammenhang mit Emily Parkers Verschwinden in den Sinn gekommen. Obenauf lag die vergilbte Kopie eines Artikels aus der Lokalzeitung.
Schrecklicher Fund unter dem Anleger
Woods Hole, Massachusetts, 13. September 1994
Am Montag entdeckten drei Jungen, die nahe Stony Beach Entenmuscheln sammeln wollten, einen abgetrennten Arm unter dem Anlegesteg. Einer von ihnen, Brian Lee, meinte einen Kreis von schwarzen Muscheln im feuchten Sand erkannt zu haben. Als er den Fund näher untersuchen wollte, wurde ihm klar, dass es sich um fünf Fingerspitzen handelte, die aus dem Sand ragten. Die Jungen informierten unverzüglich die Polizei. Die Beamten sperrten den Bereich um den Anleger und gruben den Arm aus. Nach bisher unbestätigten Angaben könnte es der Arm von Chance Winfrey sein, einem siebenjährigen Einwohner von Brewster. Chance wird seit Freitag vermisst, seine Mutter Janice seit Montag letzter Woche.
Geary blätterte weiter. Der Arm des Jungen war mit einem Messer am Gelenk abgetrennt worden. Am Tag nach diesem Fund war Janice Winfrey wieder aufgetaucht. Man fand sie auf einer Bank vor dem Woods Hole Aquarium. Sie war dehydriert und im Delirium. Nach mehreren Wochen im Krankenhaus hatte sie sich körperlich erholt, doch ihr Geist war für immer verloren. Janice Winfrey war nicht mehr in der Lage, etwas zum Schicksal ihres Sohnes zu sagen. Der Fall war zwei Jahre später zu den Akten gelegt worden, ohne ein Ergebnis. Die Leiche des Jungen war nie aufgetaucht. Die einzige Spur war ein Fußabdruck im Sand gewesen, der die Flut überstanden hatte. Die Cops hatten zwar einen Abdruck genommen, waren damit aber nicht weitergekommen.
Geary las den Artikel noch einmal durch. Dann wusste er, wonach er gesucht hatte. Der Arm des kleinen Chance Winfrey war am zehnten September gefunden worden. Seine Mutter war eine Woche zuvor verschwunden, an einem Montag.
Am Montag, dem dritten September.
Geary öffnete Ruths Tischkalender mit den Gartenbildern von Monet – die jüngsten Monatsblätter waren auffällig leer – und prüfte das Datum. Heute war der vierte September. Es passte auf den Tag genau.
Janice Winfrey war gestern vor sieben Jahren verschwunden. Exakt sieben Jahre bevor Emily Parker sich scheinbar in Luft aufgelöst hatte.
Und Emily Parker hatte zwei junge Söhne.
Geary zählte eins und eins zusammen.
Er griff nach dem schnurlosen Telefon, aber als er wählen wollte, passierte nichts. Verdammter Akku. Er stellte das Telefon in seine Ladestation und ging in die Küche. Das cremefarbene Telefon auf dem Frühstückstresen benutzte er nicht gerne, weil es ihn an Ruth erinnerte. Sie hatte eine extra lange Schnur anbringen lassen, damit sie auch während des Kochens telefonieren konnte. Einen schnurlosen Apparat hatte sie nicht gewollt. Geary nahm den Hörer ab und wählte Roger Bells Nummer.
»Guten Morgen, John, das kannst nur du sein.«
»Du hast meine Nummer erkannt. Gib’s zu, Bell.«
Roger Bell lachte heiser.
»Ich habe da eine ziemlich wichtige Sache, die ich gerne mit dir besprechen würde«, sage Geary ungeduldig.
»Hast du dir beim Aufstehen deinen großen Zeh verstaucht?«
»Ha
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