50 Rituale für das Leben
durchnehmen. So fühlen sich die Kinder wahrgenommen und angenommen. Die ganze Atmosphäre hat sich verwandelt.
Das Tischgebet macht uns bewusst, dass es Gottes Gaben sind, die wir gemeinsam genießen dürfen. Wir segnen die Gaben, damit sie uns stärken auf unserem
Weg, uns gesund halten und uns mit Freude erfüllen. Wir danken Gott, dass er uns täglich nährt und dass wir seine Güte und Menschenfreundlichkeit in den
Gaben genießen dürfen, die er uns schenkt. Das Tischgebet gibt dem Mahl einen gemeinsamen Anfang und Schluss. Oft wird das Tischgebet zum Streitpunkt. Die
Kinder rebellieren dagegen. Dann wäre es gut, den tieferen Grund ihres Widerstands herauszuspüren. Wogegen rebellieren sie? Wie könnten sie sich das
Tischgebet vorstellen? Dann kann man darüber sprechen, ob man das Tischgebet neu gestaltet. In einer Familie übernimmt zum Beispiel jede Wocheein anderer die Gestaltung des Tischgebetes. Dann wird das Ritual nicht zur Routine. Die Eltern haben sich ein Buch mit Tischgebeten
gekauft, um abzuwechseln. Der 18-jährige Sohn möchte Stille. Das macht dann die ganze Familie mit. Und die kleinen Kinder gestalten das Tischgebet
kindgemäß. Sie laden alle ein, sich an der Hand zu fassen und sich guten Appetit zu wünschen. Das stärkt das Wir-Gefühl der Familie. In der Form des
Rituals fühlt sich jeder ernst genommen, und jeder kann auf seine Weise das Ritual formen.
Andere Familien erleben es als hilfreich, immer das gleiche Gebet zu sprechen. Das gemeinsame Tischgebet gibt der Familie ein Stück
Familienidentität. Es bindet die Familie zusammen. Oft wird ein Gebet gesprochen, das schon die Vorfahren gebetet haben. So spürt die Familie beim
Tischgebet die Verbundenheit mit den Großeltern und Urgroßeltern. Die Kraft der Vorfahren begleitet sie. Und sie haben teil an dem Geheimnis, dass eine
Familie um den gleichen Tisch versammelt ist, die Gaben Gottes genießt und sich von Gottes Schutz gestärkt und genährt weiß.
Auch wenn ich allein irgendwo esse, halte ich kurz inne, um Gott für das zu danken, was ich genießen darf. Dieses kurze Innehalten gibt mir ein Gespür dafür, dass ich achtsam essen will und nicht einfach in mich hineinschlingen möchte. Und es vermittelt mir: Es sind Gottes gute Gaben, die er mir schenkt. Wenn die Buddhisten ein Tischgebet sprechen, dann danken sie nicht nur Gott für seine Gaben, sondern auch den Menschen, die diese Gaben bereitet haben. Es sind ja viele Menschen daran beteiligt, dass diese Früchte, dieses Gemüse, dieses Fleisch auf unseren Tisch kommen. Sie haben mitgeholfen, dass die Früchte der Erde gedeihen können. Sie haben sie geerntet und sie aufbereitet, so dass wir sie heute essen dürfen.Wenn wir diese Achtsamkeit üben, dann verbindet uns das Essen mit all den Menschen, die auf der weiten Welt für uns arbeiten und wirken.
8. AM ENDE DER ARBEIT
Rituale schließen eine Tür und öffnen eine Tür. Viele, die von der Arbeit nach Hause kommen, haben die Tür der Arbeit nicht
geschlossen. Die Kinder daheim sprechen sie an, aber sie hören gar nicht richtig hin. Und schon gibt es Konflikte. Die Frau freut sich auf das Kommen des
Mannes. Aber sie erlebt ihn als abwesend. Er ist immer noch mit seiner Arbeit beschäftigt. Der Konflikt in der Arbeit hängt ihm noch an. Er ist noch voll
von den Emotionen, die die Arbeitssituation in ihm ausgelöst hat. Der unaufgearbeitete Ärger oder die Sorgen um die Zukunft der Firma nagen an ihm. So ist
er unfähig, sich auf die Familie einzulassen. Er ist in seinem Geist ganz woanders.
Es ist gut, am Ende der Arbeit die Tür zu schließen, damit sich die Tür des Zuhauses auch auftun und ein neuer Raum betreten werden
kann. Wer die Tür der Arbeit nicht schließt, der steht gleichsam immer im Durchzug. Doch das tut der Seele nicht gut.
Ein Ritual am Ende der Arbeit ist: sich im Büro noch drei Minuten hinsetzen, um all das, was in der Arbeit war, auszuatmen und im Ausatmen
loszulassen.
Ein anderes Ritual besteht darin, den Heimweg von der Arbeitsstelle zu nutzen, um sich innerlich zu verabschieden von dem, was war, und sich
einzustellen auf das, was mich daheim erwartet. Ich kenne Menschen, die bewusst zu Fuß von der Arbeit nach Hause gehen, auch wenn das eine halbe Stunde
dauert. Im Gehen können sie sich befreien, imwörtlichen Sinn «freigehen» von dem, was sie belastet und tagsüber bedrückt hat.
Andere fahren mit dem Bus und nutzen diese Zeit, die Arbeit loszulassen und
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