55 - Die Liebe des Ulanen 01 - Im Auftrag Seiner Majestät
Jahrhunderten in Ruhe liegenden, von Schluchten, Spalten und Rissen tief zerklüfteten Vulkan, zu dessen Spitze man jedoch noch immer mit Mißtrauen emporschaut, da man sich des Gedankens nicht erwehren kann, daß einmal eine Eruption erfolgen könne, bei welcher das so lange Zeit scheinbar schlummernde Verderben desto grimmiger und verheerender hervorbrechen werde.
Und wie sein Körper, so war auch seine Geisteskraft noch ungebrochen. Wie sein Auge, noch vollständig ungetrübt, ebenso in die Ferne zu blicken, wie in der Nähe mit seiner Schärfe alles zu durchdringen vermochte, so waren sein Scharfsinn und seine gute Beobachtungsgabe von allen gefürchtet, die mit ihm in Berührung kamen. Es hatte noch keinen gegeben, der klug genug gewesen war, ihn täuschen zu können. Er war ein harter, strenger, eigenwilliger Kopf. Man wußte, daß er in den Mitteln, seine Zwecke zu erreichen, nicht im mindesten wählerisch sei und sogar gewissenlos sein könne.
Die einzige Schwachheit, welche man an ihm entdeckt hatte, war seine mehr als nachsichtige Liebe zu seinem Enkel, den er auf das Ärgste verwöhnte.
An diesem Morgen war derselbe bei ihm, wie die Zofe ihrer Herrin ganz richtig gesagt hatte. Er hatte ein ganz kleines Weilchen Fechtunterricht gehabt. Der Kapitän war in der Kunst des Fechtens Meister gewesen, und noch heute besaß er genug Muskelkraft des Armes und Schärfe des Auges, um sich mit jedem zu messen, der es wagen wollte, einen Gang mit ihm zu machen.
Nun saßen sie beieinander und sprachen – von dem deutschen Lehrer, welcher nun bald auf Schloß Ortry eintreffen sollte.
„Warum hast du mir denn einen Deutschen ausgewählt, Großpapa?“ fragte Alexander, der bei seinen sechzehn Jahren bereits so entwickelt war, daß man ihn keinen Knaben mehr nennen konnte.
„Aus mehrerlei Gründen, mein Sohn“, antwortete der Alte. „Zunächst zeigten sich deine bisherigen französischen Lehrer in vieler Beziehung zu selbständig; diese Deutschen aber sind gewohnt, zu gehorchen; sie sind die besten, die untertänigsten Dienstleute, weil sie gewohnt sind, keinen Willen zu haben.“
Die Wahrheit war, daß die bisherigen Erzieher Alexanders denn doch in der Vergötterung des Knaben nicht gar zu weit hatten gehen wollen.
„Du meinst also“, sagte dieser, „daß so ein Deutscher ein gutes Spielzeug ist, ein Dienstbote, der sich vor den Franzosen fürchtet?“
„Ganz gewiß. Und ein zweiter Grund ist der, daß diese Deutschen ganz außerordentlich gelehrt sind. Bei deinem neuen Lehrer wirst du in einer Woche mehr lernen als früher in einem Monat.“
„Das heißt ja beinahe, daß die Franzosen gegenüber den Deutschen dumm sind!“
„Nein. Wir sind die Meister im praktischen Leben; sie aber träumen gern; sie hocken über ihren Büchern und wissen vom wirklichen Leben nichts. Dieser Doktor André Müller wird vom Fechten, Reiten, Schwimmen, Tanzen, Exerzieren, Jagen, Schießen, Konversieren und vielen anderen notwendigen Dingen gar nichts verstehen, aber er wird dir von Griechenland, Ägypten und China alles sagen können, obgleich er kaum wissen wird, wie groß Paris ist, und daß wir bei Magenta die Österreicher geschlagen haben. Die Hauptsache ist, daß du bei ihm die deutsche Sprache sehr bald, sehr leicht und sehr vollständig erlernen wirst.“
„Deutsch soll ich lernen?“ fragte Alexander mit Nasenrümpfen. „Warum? Ich habe keine Lust, mich mit der Sprache dieser Barbaren und Büchermilben abzuquälen!“
„Das verstehst du nicht, mein Sohn“, erläuterte der Alte. „Es wird die Zeit kommen, und sie ist vielleicht sehr bald da, daß unsere Adler steigen werden, wie zur Zeit des großen Kaisers. Sie werden über den Rhein hinüber fliegen und Deutschland mit ihren scharfen, siegreichen Krallen ergreifen. Dann werden wir über das Land herrschen, welches einst uns gehörte, uns vom Unglück aber für einige Zeit wieder entrissen wurde. Es wird wieder eine Ära anbrechen, in welcher der Tapfere mit Fürsten- und Herzogtümern, ja mit Königreichen belohnt werden wird, wie Murat und Beauharnais, wie Davoust, Ney und andere Helden, und wer dann die Sprache des Landes versteht, dessen Herrscher er geworden ist, der hat doppelte Macht und Gewalt über seine Untertanen. Du bist ein Sainte-Marie, und du bist mein Enkel. Du sollst und du wirst zu den Tapfersten gehören. Du sollst mit dem Adler Frankreichs fliegen, und deinem Ruhm soll der Lohn werden, welcher mir versagt blieb, weil die englischen
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