Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
befand sich Wilhelm Fels in Untersuchungshaft.
    Es war gegen Abend desselben Tages, als sowohl Robert wie Marie ihre Arbeiten beendet hatten. Das Dunkel war bereits angebrochen, so daß beide sich ihrer ärmlichen Kleidung nicht zu schämen brauchten. Sie gingen miteinander fort und trennten sich vor dem Laden, in welchem Marie ihre Stickerei abzugeben hatte.
    Marie trat ein. Es gab da noch mehrere Käufer zu bedienen; aber trotzdem wurde sie sofort von einer der Verkäuferinnen gefragt, was sie wünsche.
    „Ich bringe ein Stickerei“, sagte sie.
    „Wie heißen Sie?“
    „Marie Bertram.“
    „Geben Sie her und setzen Sie sich! Ich werde es der Madame sogleich melden!“
    Aber anstatt nach dem Kabinett zu gehen, in welchem die Prinzipalin residierte, schlüpfte sie hinaus auf den Hof, schlug dort in einem Winkel das Papier auseinander, in welches die Stickerei geschlagen war, zog aus der Tasche ein kleines Fläschchen mit Öl hervor und schüttete einen großen Teil desselben auf die Stickerei. Dann legte sie das Papier wieder in die frühere Lage, zog die Schnur darüber und begab sich nun erst zu Madame.
    Marie wurde gerufen. Sie hatte monatelang mit eisernem Fleiß an dieser Aufgabe gearbeitet. Sie wußte, daß alles zur besten Zufriedenheit geraten sei und trat daher heiteren Antlitzes bei der strengen Dame ein.
    „Endlich fertig!“ seufzte diese. „Diese Arbeit hat mir sehr viel Ärger bereitet. Sie ist von der Baronin von Helfenstein bestellt, welche längst mit Schmerzen darauf gewartet hat. Lassen Sie sehen!“
    Sie nahm das Paket, zog die Schnur ab, nahm das Papier weg und schlug die Arbeit auseinander. Kaum aber hatte sie den ersten Blick darauf geworfen, so stieß sie auch einen Ruf des Schreckes und der Entrüstung aus.
    „Herrjemine! Was ist denn das? Diese Stickerei schwimmt ja in Öl! Und das bringen Sie zu mir!“
    Marie erschrak bis auf den Tod. Die Dame hielt ihr die Arbeit vor die Augen. Die kostbare Seide war verdorben, die Spitzen, die Perlen, alles, alles war hin. Marie glaubte in die Erde sinken zu müssen, aber sie faßte sich und erklärte, daß das Öl weder daheim, noch unterwegs an die Stickerei gekommen sei. Da gab es denn neues Öl, nämlich Öl ins Feuer. Es folgte ein Auftritt, der sich gar nicht beschreiben läßt. Die Arbeiterinnen, die Verkäuferinnen, alles eilte herbei, um zu sehen, daß es doch möglich sei, eine Stickerei im Wert von mehreren hundert Talern zu verderben. Marie war fast sinnlos vor Scham, Zorn und Schmerz. Das Ergebnis war, daß die Prinzipalin versuchen lassen wollte, ob der Schaden auf chemischem Wege beseitigt werden könne. Morgen nachmittag drei Uhr sollte sie wiederkommen, um die Arbeit selbst zur Baronin zu tragen, welche sämtliches Material geliefert hatte. Von einer Auszahlung des Arbeitslohns war natürlich keine Rede, und zugleich erhielt sie die Versicherung, daß sie niemals wieder Arbeit bekommen solle.
    Sie wankte halbtot nach Hause. Wie hatte sie sich auf das viele Geld gefreut! Sie hatte sich schon ausgerechnet, auf welche Weise es angewendet werden solle, und wie sie davon dem Vater, Robert, den Geschwistern und ihrem lieben Wilhelm eine kleine Weihnachtsfreude machen wollte – und nun war die Arbeit von Monaten umsonst gewesen. Nichts hatte sie erhalten als Schande, Spott und Demütigung! Fast getraute sie sich nicht, zur Tür einzutreten. Die Familie wartete mit Schmerzen auf das Geld.
    In der Stube herrschte bereits eine sehr gedrückte Stimmung. Die kleineren Geschwister hatten sich in die Ecke niedergeduckt; der Vater hustete, als wolle es ihm die Brust auseinandertreiben, und Robert sah trüben Antlitzes zum Fenster hinaus. Als sie eintrat, drehte er sich um.
    „Endlich!“ sagte er. „Ich hoffe, daß du glücklicher gewesen bist als ich, liebe Marie!“
    „Warst du nicht glücklich?“ hauchte sie.
    „Nein. Der Herr war verreist. Man hat die Noten behalten, ohne daß ich Geld bekam. Ich soll morgen oder in einer Woche oder noch später wiederkommen.“
    „Gott, o Gott!“ schluchzte sie. „Wir sind verloren. Wie soll da der Herr Baron die Miete erhalten!“
    Sie erzählte nun, was ihr widerfahren war. Der Vater jammerte laut, die Geschwister weinten. Einer aber sagte nichts, nämlich Robert. Er ging in die Kammer und holte seine Kette. Er wickelte sie in das nächste Stück Papier, welches er fand, und schlich sich still davon. Unten auf der Straße faltete er die Hände und betete:
    „Herrgott, hilf nur dieses Mal! Gib

Weitere Kostenlose Bücher