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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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dem Salomon Levi einen guten Augenblick, daß er mir so viel bietet, wie ich brauche!“
    Er schlich sich an den Häusern hin, bis er des Juden Tür erreichte. Sie war verschlossen, und er klopfte. Die alte Rebekka öffnete ein wenig, und als sie hörte, was er wolle, ließ sie ihn ein. Er mußte durch das vordere Zimmer in das Kabinett, in welchem gestern abend die Frau des Schließers gewesen war. Dort befand sich Salomon Levi, der Jude, und – Judith, seine Tochter. Sie war auf einige Augenblicke herabgekommen, um einiger häuslichen Fragen willen. Ihr Auge fiel auf das übergeistigte, schöne, aber vor Sorgen bleiche und hagere Gesicht des Jünglings.
    „Was will der junge Herr?“ fragte der Alte.
    „Würden Sie mir auf eine goldene Kette einen Vorschuß geben?“ fragte Robert.
    „Was ist sie wert?“
    „Ich verstehe nicht, das zu schätzen. Hier ist sie!“
    Er gab sie hin, samt dem Papier, in welches er sie eingewickelt hatte. Der Alte setzte die Brille auf, wickelte die Kette aus, warf das Papier achtlos auf den Tisch und untersuchte die erstere. Als er damit zu Ende war, warf er einen scharfen, beinahe stechenden Blick auf Robert und fragte ihn:
    „Ist die Kette Ihr Eigentum?“
    „Ja.“
    „Von wem haben Sie sie erhalten?“
    „Jedenfalls von meinen Eltern.“
    „Ist denn Ihr Vater ein Baron, ein Freiherr?“
    „Ich weiß es nicht. Ich bin ein Findelkind und habe, als man mich fand, diese Kette um den Hals getragen.“
    „Das kann ein jeder sagen! Haben Sie bei sich einen Schein, welcher beweist die Wahrheit Ihrer Worte?“
    „Ja, hier ist er!“
    Robert hatte vorsichtigerweise diese Legitimation zu sich gesteckt und gab sie dem Alten. Dieser prüfte sie und sagte dann:
    „Der Schein ist in Ordnung. Wieviel wollen Sie haben?“
    „Wieviel können Sie mir geben?“
    „Zehn harte, blanke, schwere Taler.“
    „Das reicht nicht hin!“
    „Wie? Was? Das reicht nicht hin für einen so jungen Herrn? Wozu wollen Sie brauchen dieses schwere Geld?“
    „Herr Levi, mein Pflegevater ist arm und krank und ich habe jüngere Geschwister, welche noch nichts verdienen können. Wir sind den Hauszins schuldig und haben nichts zu essen. Ich brauche weit mehr als nur zehn Taler!“
    Da trat auch Judith näher, um sich die interessante Kette anzusehen. Zugleich fiel ihr Blick auf das Papier. Die Anordnung der Zeilen, welche darauf geschrieben waren, bewies ihr, daß es ein Gedicht sei. Sie nahm es auf und betrachtete es. Kaum aber hatte sie die ersten Zeilen gelesen, so rief sie:
    „Was ist das?“
    Wenn um die Berge von Befour
Des Abends dunkle Schatten wallen!
    „Das ist ja das Gedicht des Hadschi Omanah! Doch nein, es lautet hier anders, ganz anders!“
    Sie las weiter und weiter.
    Als sie geendet hatte, fragte sie:
    „Wer hat das geschrieben?“
    „Ich“, antwortete Robert.
    „Wovon haben Sie es abgeschrieben?“
    „Es ist keine Abschrift, sondern ein Original.“
    „Original? Wer hat es gedichtet?“
    „Ich, mein Fräulein.“
    Sie richtete die dunklen, sprühenden Augen groß und voll auf ihn, musterte ihn genauer, als es vorher geschehen war, und fragte:
    „Sie? Wirklich Sie? Dann ist es bloß ein Zufall, daß Sie Ihrem Vorbild fast gleichgekommen sind. Es ist ein Pendant zu der ‚Nacht‘ von Hadschi Omanah!“
    „Ja, es ist ein Pendant zu der ‚Nacht‘ von Hadschi Omanah. Das erstere Gedicht ist die ‚epische Nacht‘ und dieses hier die ‚tragische Nacht des Südens‘, jedoch nicht nur das erstere, sondern beide sind von Hadschi Omanah.“
    „Wie können Sie das sagen? Dann wären ja Sie dieser Dichter der ‚Heimats-, Tropen- und Wüstenbilder‘.“
    Seine Wangen röteten sich, und seine Gestalt schien sich zu strecken.
    „Nicht wahr, Fräulein, ich sehe nicht aus wie ein Dichter?“ fragte er. „Wie kann ein Dichter zur Leihbank seine Zuflucht nehmen? Mein Vater stirbt an der Auszehrung, und meine Pflegegeschwister weinen und jammern vor Not. Und doch ist mein Pseudonym Hadschi Omanah!“
    Da trat sie zu ihm heran, legte ihm beide Hände auf die Achseln und sagte in tiefen, vollen Brusttönen:
    „Hadschi Omanah wären Sie? Gefunden hätte ich meinen Lieblingsdichter! Können Sie das beweisen?“
    Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten, und ihr Busen hob und senkte sich unter dem Sturm der Gefühle, welche in diesem Augenblick ihr Herz durchfluteten. Er hob das treue, ehrliche und doch so geistvolle Auge zu ihr und antwortete:
    „Wie soll ich es Ihnen beweisen, wenn Sie

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