60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Lippe an Lippe lagen. Sie fühlte sich fast wahnsinnig vor Glück; sie küßte, küßte und küßte ihn wieder und immer wieder; sie liebkoste ihn, sie streichelte ihm die Wangen, als ob sie ein heißgeliebtes Kind vor sich habe, dem sie ihre ganze Seele hingeben müsse. Dabei flüsterte und fragte sie immer und immer wieder.
„Lieben Sie mich? Lieben Sie mich? Ist es wahr, daß Sie mich lieben können?“
„Ja“, antwortete er, sie an sich pressend. „Ich liebe Sie! Jetzt freilich nur wie ein herrliches, entzückendes Bild, welches die Sinne begeistert. Aber dann, wenn ich erst die Tiefen Ihrer Seele erforscht und erkannt habe, dann wird meine Liebe so sein, wie sie zu dem unaussprechlichen Glück, welches ich mir ersehne, erforderlich ist.“
„Forschen Sie in mir; forschen Sie! Sie werden finden, daß in meinem Herzen nichts wohnt und lebt, als nur Sie, Sie, Sie allein!“
Sie schmiegte und drängte sich in heißer Liebesglut an ihn, als ob es ihr möglich sei, ganz in ihn einzudringen. Und grad als sie so eng umschlungen beieinandersaßen, wurde die Türe geöffnet und der Baron trat ein.
Ella erschrak nicht im geringsten. Sie gab sich kaum die Mühe, ihre Arme von dem Fürsten fortzunehmen. Dieser letztere wurde ebensowenig verlegen. Er erhob sich gleichmütig von seinem Sitz, um dem Baron eine Verbeugung zu machen.
„Verzeihung, Durchlaucht!“ sagte dieser. „Ich trete nur für einen Augenblick hier ein!“
„Du willst zu mir?“ fragte sie.
Ihre Stimme klang sogar eher abweisend, abwehrend, als bloß kalt und gleichgültig.
„Allerdings zu dir.“
„Ist es so notwendig?“
„Wahrscheinlich.“
„Wahrscheinlich? Also du weißt es nicht gewiß? Dann konntest du warten, bis ich besser disponibel bin, als grad in diesem Augenblick.“
„Verzeih! Der Vorsteher will nicht gern länger warten.“
„Der Vorsteher? Wohl der fromme Schuster Seidelmann?“ fragte sie ironisch.
„Ja. Er wünscht eine Unterredung mit dir.“
„In welcher Angelegenheit?“
„In betreff eines Waisenkindes. Du weißt, daß ich als Leiter des Armenwesens gewisse Verpflichtungen habe, denen selbst du dich nicht gut zu entziehen vermagst.“
„Er mag später wiederkommen!“
Sie wollte sich abwenden, um anzudeuten, daß in den letzteren Worten ihre endgültige Resolution enthalten sei; aber schon hatte der Fürst seine Handschuhe angelegt. Er sagte:
„Bitte, gnädige Frau! Die Angelegenheiten eines Waisenkindes müssen für jedermann, besonders aber für eine Dame, stets wichtig und unaufschiebbar sein. Meine Zeit ist abgelaufen. Lassen Sie meine Anwesenheit nicht die Ursache sein, den Herrn Vorsteher auf Wartezeit zu stellen. Ich empfehle mich Ihnen, Frau Baronin! Ich grüße Sie, Herr Baron!“
Er küßte ihr die Hand, verneigte sich leicht vor ihrem Mann und ging. Die beiden Gatten standen einander beinahe zornig gegenüber.
„Kannst du diesen Herrn nicht anderweit bestellen?“ sagte sie.
„Nein“, antwortete er kurz.
„Du wußtest doch, daß der Fürst bei mir war!“
„Allerdings wußte ich das.“
„Und um eines solchen Mannes willen zwingst du diesen Kavalier, mich zu verlassen?“
„Der Besuch des Vorstehers hat für mich ganz dieselbe Wichtigkeit, wie für dich die Visite des Fürsten.“
„Aber du wußtest, daß ich noch nicht Toilette gemacht habe!“
„Empfängst du einen Herrn, der erst zum dritten Mal Zutritt nimmt, in dieser allerdings fast mehr als leichten Kleidung, so brauchst du dich derselben vor meinem Administrator noch viel weniger zu schämen.“
„Ich hasse diesen Scheinheiligen!“
„Und ich liebe ihn!“ höhnte er.
„Leider scheinst du in neuester Zeit alles zu lieben, was ich hasse!“
„Ganz dasselbe habe ich dir zu sagen. Dieser Fürst ist mir ganz und gar nicht sympathisch, ganz und gar nicht willkommen!“
„Ah! Warum?“
„Er ist eine Schlange!“
„Pah! Du bist ein Krokodil!“
„Unsinn!“ meinte er sehr ernsthaft. „Glaube nicht, daß ich scherze! Dieser Mann ist so gewandt, so glatt, so kalt, so wenig zu fassen, grad wie eine Schlange. Er macht auf mich den Eindruck, als ob er uns nur deshalb besuche, um einen Biß seiner Giftzähne anzubringen.“
„Du irrst!“ antwortete sie. „Er kommt nur meinetwegen!“
Er zuckte die Achsel, schüttelte den Kopf und fragte:
„Meinst du wirklich, daß er in dich verliebt ist?“
„Ganz und gar! Du hast es ja gesehen!“
„Ja. Ich überraschte euch in einer außerordentlich innigen
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