60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
unaussprechlich! Ich habe einst eine Jugendliebe gehabt, heiß, innig, aber verborgen. Das Herz dessen, für den ich lebte und von dem ich träumte, gehörte einer anderen. Er sah mich nicht; er beachtete mich nicht. Meine Liebe war eine verschwiegene und unglückliche. Jetzt ist es mir, als sei jene Liebe vom Tod erstanden und tausend-, tausendmal mächtiger und gewaltiger geworden! Ich habe ihr widerstehen wollen; aber ich bin zu schwach dazu. Ich fühle mich Ihnen gegenüber als ein ohnmächtiges Weib, welches kein größeres Glück auf Erden kennen und haben möchte, als Ihre Dienerin, Ihre Sklavin zu sein.“
„Und dabei sind Sie die Sklavin eines anderen, die Sklavin dessen, dessen Weib Sie sich nennen!“
„Ja, Sie haben recht. Ich fühle mich als Sklavin, als armselige Sklavin der Verhältnisse, welche mir früher so glänzend erschienen. Wären Sie ein armer Mann, so würde ich Sie auffordern, mit mir fortzugehen, zu fliehen, weit weg, wo uns niemand kennt, und dann sollte mein ganzes Leben, all mein Denken und Wollen, Ihnen gehören, und Sie würden so glücklich sein, wie ein Mann durch die aufopferndste Liebe seines Weibes nur immer und jemals werden kann!“
Jetzt gab es keine Spur von Berechnung mehr bei ihr. Sie war von einer verzehrenden, flammenden Leidenschaft erfaßt worden, gegen die sie keinen Widerstand zu finden vermochte. Er beugte sich zu ihr nieder, legte ihr die Hand unter das Kinn, hob ihren Kopf zu sich empor und sagte:
„Beichten Sie mir, Ella!“
„Was?“ flüsterte sie.
„Von jener Jugendliebe. Wer war der, den Sie liebten?“
„Ein Förstersohn, bei der Polizei angestellt.“
„Wie hieß er?“
„Gustav Brandt.“
„Wo ist er jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“
„Sie werden es wissen. Sie müssen es wissen, denn so eine Liebe, wie die ist, welche Sie gefühlt haben, läßt ihren Gegenstand niemals aus den Augen.“
„Und dennoch würde ich ihn nicht zu finden wissen, wenn ich ihn zu suchen hätte. Er ging in alle Welt. Er war ein Flüchtling und mußte verschwinden.“
„Verschwinden? Fliehen? Warum?“
„Er war als Mörder verurteilt worden; es gelang ihm aber, grad an dem Tag zu entkommen, an welchem er eine lebenslängliche Gefangenschaft antreten sollte.“
„War er schuldig oder unschuldig?“
Seine Augen flammten mit unwiderstehlicher Gewalt auf sie nieder. So ein gewaltiger Blick war ihren Augen noch nie begegnet. Sie wollte antworten; aber sie konnte, unter dem Einfluß dieses Blickes stehend, nicht lügen, wollte und durfte jedoch auch nicht die Wahrheit sagen.
„Antworten Sie!“ bat er.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie, die Augen niederschlagend.
Da hob er ihr Gesicht wieder zu sich empor und sprach:
„Ich habe Ihnen bereits bewiesen, daß ich Menschenkenner bin. Ich lese in Ihnen, daß jener Flüchtling schuldlos war, daß Sie mit Teil an seinem Unglück hatten, und daß – ah, Ihr damaliger Verbündeter derjenige ist, dem Sie jetzt als Weib gehören. Ich will nicht in Sie dringen; ich habe kein Recht dazu; aber soll derjenige, welcher Sie dazu brachte, einen Schuldlosen in Schande und Elend zu stürzen, so glücklich sein, ein Weib von Ihrer Schönheit, Ihrem Geist, und Ihrem Temperament zu besitzen?“
„Durchlaucht, ich bin bereit, ihn zu verlassen!“
Sie zitterte am ganzen Körper vor seelischer Aufregung und ihr Atem strömte hörbar zwischen ihren Lippen hervor. Er erkannte, daß er es wirklich in der Hand habe, sie zu seiner Dienerin, seiner Sklavin zu machen. Es wallte in ihm auf wie eine tiefe, gewaltige Genugtuung. Er hätte laut aufjubeln mögen; aber er blieb äußerlich ruhig und fragte im Ton des Glücks:
„Ihn verlassen? Ist das wahr?“
„Ja; gewiß und wahrhaftig ist es wahr!“
„Um wessentwillen wollen Sie ihn verlassen?“
„Um Ihretwillen!“
„Sie würden dennoch mit tausend Banden an ihn gekettet sein!“
„Durch kein Band, keinen Faden, und sei er auch nur so dünn wie der Faden, welchen eine Spinne zieht!“
„Sie beide sind durch Ihr Leben, Ihre Taten, Ihr Zusammenwirken miteinander verbunden und bleiben es auch!“
„Nein, nein! Ich reiße alle Bande entzwei, alle, alle, alle!“
Sie hob die Hand wie zum Schwur empor.
„Und was erhoffen Sie als Lohn für solch eine Entsagung, für solch ein Opfer?“
„Ihre Liebe, Durchlaucht, weiter nichts als Ihre Liebe!“
Da bog er sich zu der Knienden nieder, schlang die Arme um sie und zog sie zu sich empor, so daß sie Brust an Brust und
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