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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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bereits schlafen gegangen?“
    Sie sah ihn an und antwortete nicht. Er deutete auf das in dem Zimmer stehende Bett und meinte:
    „Das ist ja für Sie bestimmt!“
    „Ja“, antwortete sie, ohne weiter zu überlegen.
    „Haben Sie gespeist?“
    „Nein.“
    Er setzte sich neben sie auf das Sofa und erkundigte sich weiter:
    „Ich hoffe doch, daß Sie aufmerksam bedient worden sind?“
    „Ja.“
    „Wollen wir uns noch ein wenig unterhalten?“
    „Ja.“
    „Wovon? Vielleicht von dem Grund, welcher mich veranlaßt hat, Ihnen hier eine Anstellung zu geben?“
    „Ja.“
    Die Antworten kamen so monoton zwischen den Lippen hervor, als ob sie einem verständnislosen Wesen einstudiert worden seien. Dennoch rückte der Baron näher zu ihr heran und fuhr fort:
    „Ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß der einzige Grund in der Liebe besteht, welche ich für Sie gefaßt habe. Ich habe zwar gehört, daß Ihr Herz nicht mehr frei ist, aber ich glaube, Sie werden so verständig sein, die Chancen, welche ich Ihnen zu bieten vermag, allem anderen vorzuziehen. Nicht wahr, ich darf das hoffen?“
    „Ja.“
    „Ah, ich sehe, daß Sie eine höchst verständige und liebenswürdige junge Dame sind. Kommen Sie her und lassen Sie sich umarmen!“
    Er legte den Arm um sie und wollte sie küssen. Da stieß sie ihn von sich. Er aber ließ sich nicht irre machen. Er hatte von dem Diener bereits gehört, in welchem Seelenzustand er die neue Mätresse finden werde. Er zog sie abermals an sich und hielt sie so fest, daß sie sich kaum zu rühren vermochte. Aber zu einem Kuß kam er doch nicht. Ohne einen Laut von sich zu geben, ohne um Hilfe zu rufen, wußte sie ihm ihre Lippen jedesmal zu entziehen.
    So kämpften sie still und lautlos, bis ihm endlich ein Gedanke kam, der ihm Erfolg versprach. Er ließ sie los, betrachtete sie mit freundlicheren Augen und fragte:
    „Nicht wahr, Ihr Bruder heißt Robert?“
    „Ja.“
    „Und Ihr Geliebter Wilhelm?“
    „Ja.“
    „Beide sind jetzt gefangen?“
    „Ja.“
    „Sie sind verloren; man wird sie verurteilen und in das Zuchthaus schaffen. Aber Sie können sie retten.“
    Der teuflische Plan des Barons schien gelingen zu wollen, denn ihr Auge belebte sich ein wenig.
    „Wollen Sie, daß beide gerettet werden?“ fragte er weiter.
    Sie nickte mit einiger Lebhaftigkeit.
    „Gut! Hören Sie! Ich bin der Richter, welcher beide zu verurteilen hat. Nun kommt es darauf an, wie Sie sich gegen mich verhalten. Sind Sie freundlich und gehorsam, so werde ich dafür sorgen, daß Robert und Wilhelm bereits in einigen Tagen auf freiem Fuß sind. Kämpfen Sie aber gegen meine Liebe, so sind die beiden Gefangenen nicht zu retten. Verstehen Sie mich?“
    Sie blickte ihm lange Zeit starr in das Gesicht und nickte dann.
    „Gut! Sie haben gehört, was ich Ihnen gesagt habe. Entscheiden Sie also jetzt über das Schicksal der Ihrigen!“
    Er legte den Arm um sie – sie duldete es. Er zog sie an sich – sie widerstrebte nicht. Er küßte sie auf den Mund – sie leistete nicht den geringsten Widerstand. Nun hob er ihren Kopf ein wenig empor, um die lieben, treuen, reinen Züge näher zu betrachten. Da hielt sie das Auge auf ihn gerichtet mit einem Ausdruck, den die Sprache gar nicht wiederzugeben vermag. Dieser Blick war ein Ertrinken der Seele im tiefsten Jammer, in fürchterlicher Qual und Not.
    Ein anderer hätte bei diesem Blick grad aufschluchzen müssen; er hätte es nicht vermocht, diesem armen, beklagenswerten Mädchen auch nur das geringste weitere Leid anzutun. Aber der Baron hatte weder Gefühl noch Gewissen. Er hielt sie mit dem einen Arm umschlossen und versuchte mit der anderen Hand, die Lampe zu verlöschen. Marie verhielt sich vollständig bewegungslos dabei. Es war Nacht geworden im Zimmer und Nacht in ihrem Innern. –
    Am anderen Morgen kam der Vorsteher, um sich nach dem Befinden seiner Mündel zu erkundigen. Er fand den Baron in der allerschlechtesten Laune. Dieser fragte:
    „Was ist denn eigentlich mit dem Mädchen geschehen? Sie ist ein Körper ohne Seele, ohne Leben.“
    „Es ist eine schwere Prüfung über sie gekommen, welche aber nach einiger Zeit vorübergehen wird.“
    „Ich habe keine Lust, diese Zeit zu erwarten. Nehmen Sie das Mädchen immerhin wieder mit sich fort!“
    „Sie scherzen, gnädiger Herr!“
    „Fällt mir gar nicht ein! Sie ist eine Leiche bei lebendigem Leib, und eine Leiche dulde ich nicht in meinem Haus.“
    „Ihr Wunsch ist mir Befehl, Herr Baron. Ich bin

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