60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
erblickte, erhob er sich, um zu grüßen. Seinem Gesicht aber war es anzusehen, daß ihm der Besuch nichts weniger als willkommen war.
„Nun, Arnold, heut wieder Verhör gehabt?“ fragte der Pastor.
„Ja.“
„Haben Sie gestanden?“
„Wie wäre das möglich! Ich bin ja unschuldig!“
„Aber Sie geben doch zu, daß der Riese ohne Ihre Hilfe nicht herausgekonnt hätte?“
„Die Sache ist mir selbst ein Rätsel. Ich kann nur sagen, daß ich nichts von allem weiß.“
„Sie werden trotzdem verurteilt werden.“
„Ich werde mich zu verteidigen wissen!“
„Was könnten Sie da anführen?“
„Dreierlei: Erstens, daß es mehrere Beamte gibt, welche Schlüssel haben. Zweitens, daß Bormann den richtigen nicht nennen wird, sondern denjenigen unter dem Personal, auf den er einen Pik hat.“
„Und drittens?“
„Drittens, das ist der geheime Hauptmann. Man weiß, daß der fast allmächtig ist. Es ist leicht möglich, daß der ihn herausgeholt hat.“
„Alle diese drei Punkte haben wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Ich rate Ihnen, die Wahrheit zu gestehen.“
„Und Ihnen, Herr Pastor, rate ich, sich nicht in Sachen zu mengen, welche Sie nichts angehen. Ob ich geständig bin oder nicht, das ist Sache des Untersuchungsrichters, aber nicht die Ihrige! Adieu!“
Der abermals abgewiesene Geistliche begab sich nun nach einem anderen Korridor. Man pflegt die Gefangenen, welche unter einem und demselben Untersuchungsfall stehen, möglichst zu trennen. Daher kam es, daß Robert Bertram in einer anderen Abteilung des Gefängnisses untergebracht war.
Als der Pfarrer in den betreffenden Korridor trat, fand er, daß eine Zellentür offenstand. Er ging näher. Vor der Tür stand, diskret zurückgezogen, der Schließer. Der Pfarrer blickte hinein. Da stand der Assessor, welcher als Untersuchungsrichter fungierte, und der Bezirksarzt, welcher zugleich Gefängnis- und Gerichtsarzt war. Am Boden aber lag der Gefangene in einem Zustand, welcher mitleiderregend war.
Man hatte ihm, als man ihn inhaftiert hatte, einen Strohsack in die Zelle gelegt; dieser aber war jetzt ganz zerrissen, so daß der Gefangene auf dem blanken Stroh lag. Man erkannte auf den ersten Blick, daß er den Strohsack zerstört hatte. Aus welchem Grund?
Auch die beiden, welche sich soeben bei Robert in der Zelle befanden, waren soeben erst eingetreten. Sie erblickten den Geistlichen und begrüßten ihn. Dann wendete sich der Untersuchungsrichter an den Schließer.
„Hat er gesprochen?“
„Ja“, lautete die Antwort.
„Was?“
„Nur ganz dummes Zeug.“
„Haben Sie nichts verstanden?“
„Es waren viel Reime dabei.“
„Das ist sonderbar!“
„Oh, der Kerl will uns doch nur an der Nase herumführen, Herr Assessor! Er tut nur so, als ob er ganz von Sinnen sei; das kennt man! Das ist die letzte Zuflucht solcher Kerls, wenn sie keine andere Hilfe mehr wissen. Er deklamiert in einem fort.“
„Also verständige Antworten auf Ihre Fragen gibt er nicht?“
„Nein.“
„Und die Augen, waren sie stets so geschlossen wie jetzt?“
„Ja.“
„Und der Gesichtsausdruck?“
„Er zieht sehr oft ganz greuliche Grimassen. Man soll denken, daß er große Schmerzen leide.“
„Hm! Warum haben Sie ihm diesen zerrissenen Strohsack gegeben?“
„Zerrissen? Er war noch fast ganz neu. Aber er selbst hat ihn zerfetzt und so zugerichtet. Er tobte, ohne sich vom Boden zu erheben, in der Zelle herum und demolierte alles. Darum haben wir es für nötig gehalten, ihn, wie ja die Hausordnung besagt, an die Kette zu schließen.“
Der Gefangene war wirklich an Arm und Fuß mittels einer starken Kette an die Mauer gefesselt.
Der Assessor schien kein Unmensch zu sein. Er schüttelte leise mit dem Kopf und wendete sich an den Gerichtsarzt:
„Halten Sie die Kette für notwendig?“
„Unter Umständen, ja.“
„Sie kann aber auch schädlich sein!“
„Wenn er seinen Zustand nicht simuliert, sondern wirklich Schmerzen fühlt, ist sie sogar eine Grausamkeit.“
„Hoffentlich ist es nicht schwer, zwischen der Wahrheit und der beabsichtigten Täuschung zu unterscheiden?“
„Ich hoffe es. Versuchen wir es einmal!“
Er trat näher zu dem Gefangenen heran. Dieser lag, lang ausgestreckt und den Kopf in die rechte Hand stützend, halb auf dem Stroh und halb auf der harten Diele. Seine Augen waren geschlossen, und nicht die mindeste Bewegung zeigte an, daß Leben in ihm sei.
„Bertram!“ rief der Arzt, sich zu ihm niederbeugend.
Er
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