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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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noch!“
    Auch diese Demütigung nahm Marie wortlos hin. Nach einiger Zeit wurde ihr ein Arbeitsmädchen beigegeben, um sie zur Baronin zu begleiten. Dort angekommen, wurden beide vorgelassen. Marie sprach kein Wort; die andere mußte die Angelegenheit vortragen. Die Baronin geriet in einen außerordentlichen Zorn. Sie hatte monatelang auf diese Stickerei gewartet, um sie zu dem nächsten Weihnachtsfest anzulegen, und nun war das unmöglich geworden. Sie erklärte den beiden Mädchen, daß sie mit ihnen nichts zu tun habe, sie sollten die Arbeit wieder mitnehmen; sie selbst aber werde sich wegen des Schadenersatzes an die Prinzipalin halten.
    Auch diesen Sturm ließ Marie über sich ergehen, ohne ein Wort zu sprechen. Und als sie während des Rückwegs den Mund ebensowenig öffnete, sagte ihre Begleiterin:
    „Sie dauern mich. Ich ahne, daß Sie nicht schuldig sind. Was will die Herrin noch mit Ihnen machen? Gehen Sie in Gottes Namen nach Hause. Ich werde die Stickerei überbringen.“
    Hierauf ging Marie schweigend heim. Sie schritt wie im Traum der Wasserstraße zu und stieg hierauf in ihre Wohnung. Dort setzte sie sich auf die alte Matratze und vergrub das Gesicht in die Hände, bis draußen Schritte ertönten und jemand eintrat. Sie blickte auf. Es war der Vorsteher, Herr Seidelmann. Sie starrte ihn an und grüßte nicht. Darum gebot er ihr:
    „Stehen Sie auf!“
    Sie erhob sich, steif und still wie eine Nachtwandlerin. Dann fuhr der Fromme fort:
    „Ich bringe Ihnen eine frohe Botschaft, ein wahres Evangelium. Sie sollen gerettet werden, das ist Gottes Wille. Darum gab er Ihnen einen treuen Sorger zum Vormund, der über Sie wachen wird, daß Sie nicht wieder in die Arme der Sünde fallen. Denn Ihre größte Sünde war die Lektüre von Liebesliedern. Ich selbst bin Ihr Vormund, und Sie haben mir in allen Stücken Gehorsam zu leisten. Verstehen Sie mich?“
    „Ja“, hauchte sie tonlos.
    „Sie werden heute eine neue, glanzvolle Stellung antreten, und zwar in einer hohen, adeligen Familie, zu welcher ich Sie sofort bringen werde. Ihre Sachen, welche hier liegen, können Sie dort nicht brauchen. Sie bleiben hier, um im Interesse Ihrer kleinen Geschwister verkauft zu werden. Folgen Sie mir!“
    Er ergriff sie beim Arm und zog sie fort. Sie folgte ihm, ohne den geringsten Versuch, Widerstand zu leisten. Ihr Wille schien ganz gestorben zu sein.
    Sie fuhren in einer Droschke nach dem Palast des Barons. Dieser war ausgegangen. Darum ließ Herr Seidelmann sich bei der Baronin melden. Als diese ihn mit dem Mädchen eintreten sah, fragte sie:
    „Herr Vorsteher, kommen Sie etwa, mich zu erbitten? Dieses Mädchen ist bereits hier gewesen, und ich habe in dieser ärgerlichen Angelegenheit mein letztes Wort gesprochen!“
    „Bereits hier gewesen?“ fragte er.
    „Ja. Ich hatte mich auf diese Stickerei wirklich wie ein Kind –“
    „Stickerei?“ fiel er ein. „Davon weiß ich nichts. Ich komme ganz und gar nicht wegen einer Stickerei!“
    „Nicht? Weshalb denn?“
    „Ich gebe mir die Ehre, Ihnen dieses Mädchen als die Marie Bertram vorzustellen, von welcher wir gesprochen haben.“
    „Marie Bertram? Ist das möglich!“ rief die Baronin ganz erstaunt. „Das ist ein eigentümliches Zusammentreffen!“
    Sie musterte das Mädchen sehr aufmerksam, schüttelte den Kopf und fragte dann:
    „Fräulein Bertram, kennen Sie den Baron von Helfenstein?“
    „Nein“, antwortete Marie leise.
    „Sie haben aber wohl von ihm gehört?“
    „Ja.“
    „Was?“
    „Unser Wirt.“
    „Was ist Ihnen, warum sprechen Sie nicht anders?“
    Da fiel der Vorsteher ein:
    „Entschuldigen Sie gnädigst! Ihr Vater ist heute vormittag gestorben. Sie ist sehr erschüttert und muß sich erst in ihre Lage finden.“
    „Gut! Lassen wir sie allein. Bringen Sie das Mädchen zum Leibdiener meines Mannes, welcher bereits die nötigen Befehle erhalten hat. Er mag sie nach ihrem Zimmer bringen!“
    Das geschah. Nach kurzer Zeit befand Marie sich in einem nicht zu großen, aber allerliebst ausgestatteten Zimmerchen. Sie setzte sich auf das Sofa und starrte vor sich hin. Es wurde Licht gebracht, sie beachtete es nicht. Der Diener servierte ihr ein kleines Abendessen; sie rührte es aber nicht an.
    So verging Stunde um Stunde, bis Mitternacht vorüber war. Da öffnete sich plötzlich die Nebentür, und der Baron trat ein. Als er sie erblickte, leuchtete sein Auge befriedigt auf.
    „Guten Abend, liebes Kind!“ grüßte er. „Warum sind Sie nicht

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