60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
ihn, wenn Sie befehlen!“
„So sind wir einig. Gehen Sie jetzt. Es wird die Zeit kommen, in der ich Sie brauche, und dann wird die Liebe auch Gelegenheit finden, Sie reich zu belohnen!“
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen; er ergriff dieselbe und küßte sie. Dann ließ er sich auf ein Knie vor ihr nieder, erhob die Hand zum Schwur und sagte:
„Ich erkläre Ihnen hiermit an Eides statt, daß Sie über mich verfügen können zu jeder Zeit, bei Tag und Nacht, und daß ich Ihnen treu und ergeben sein werde bis zu meinem Tod!“
Dann entfernte er sich.
„Scheusal!“ murmelte sie, während sie eine Gebärde des Abscheus machte. „Ich werde ihn notwendig brauchen; aber ich werde ihn benützen und dann zertreten, diesen elenden Wurm!“ –
Der Gegenstand dieser Audienz, Marie Bertram, hatte mehr mechanisch oder automatisch, als infolge besonderen Nachdenkens dem Gebot, welches ihr erteilt worden war, Folge geleistet. Sie hatte das Zimmer gereinigt und sich dann zum Ausgehen gekleidet. Es war ihr so dumpf im Kopf, als hätte sie einen Keulenschlag erhalten. Ihr Herz schien leer zu sein, und doch war es nur die unendliche Traurigkeit, welche sie fast von Sinnen brachte.
Sie ging aus, die Straße hinab, mit Schritten, als ob ihre Füße an Stricken gezogen würden. Sie begab sich nach dem Gefängnis, um nach dem Bruder und dem Geliebten zu fragen. Man sagte ihr, daß beide anwesend seien, aber man erlaubte ihr nicht, sie zu sehen oder gar mit ihnen zu sprechen.
Von da begab sie sich nach dem Gottesacker. Die Leichenhalle war verschlossen, und auf ihre Bitte erklärte ihr der Totengräber, daß er ihr nicht öffnen dürfe.
Nun wandelte sie zwischen Gräbern umher, eine lange, lange Zeit. Sie dachte nicht ans Essen und Trinken. Sie hatte weder Hunger noch Durst. Sie fühlte nichts, gar nichts. Sie wandelte unter Toten und war selbst eine wandelnde Leiche.
Endlich verließ sie den Kirchhof und kehrte zurück. Da schlugen die Glocken die Stunde. Sie blieb stehen und zählte. Hierbei kam ihr der erste klare, geordnete Gedanke: Um die jetzige Zeit war sie ja in das Stickgeschäft bestellt. Sie wandte den Schritt dort hin und trat ein. Aller Augen richteten sich auf sie, und die Verkäuferinnen flüsterten heimlich miteinander.
Die Besitzerin wurde herbeigerufen. Als sie das Mädchen erblickte, machte sie ein höchst zorniges Gesicht und fragte:
„Nicht wahr, Marie Bertram ist Ihr Name?“
„Ja“, murmelte die Gefragte vor sich hin.
„Sind Sie nicht die Schwester des Robert Bertram, welcher mit dem Riesen Bormann arretiert worden ist?“
„Ja.“
„Und die Geliebte des Mechanikus Fels, den man gestern auch eingezogen hat?“
„Ja.“
„So, so! Auf solche Verwandtschaft und Bekanntschaft können Sie sich fürchterlich viel einbilden! Sie kommen wegen Ihrer Stickerei?“
Marie hielt die Augen voll und offen auf die Sprecherin gerichtet. Diese Augen schienen tot und leer zu sein; aber das war eine Täuschung. Es glänzte darin, tief unten, eine ganze, gewaltige Tränenflut. Hätten sich einzelne Tropfen aus diesem See lösen können, wie wohl, wie wohl hätte das diesem schwer geprüften Herzen getan! Aber diese Flut wollte mit einem Mal herausbrechen, und da kam denn kein einzelner Tropfen zum Vorschein. Sie hörte, was man zu ihr sagte; sie gab auch Antwort; aber der Jammer hielt ihren Geist so fest verpackt, daß er sich nicht selbständig zu regen und zu bewegen vermochte.
„Ja“, antwortete sie auch auf die letzte Frage.
„Da haben Sie ein schönes Unheil angerichtet! Der Fleck läßt sich nicht entfernen. Der Chemiker sagt, daß es nicht ein Öl, sondern eine geradezu raffinierte Mischung verschiedener Fette und Öle sei. Er meint, daß der Fleck mit Fleiß gemacht worden ist!“
Sie schien jetzt eine Bemerkung zu erwarten; da Marie aber schwieg, so fuhr sie fort:
„Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß die Stickerei für die Frau Baronin von Helfenstein ist. Diese hat sämtliche Auslagen getragen. Das Material wird ungefähr vierzig Taler gekostet haben. Ich getraue mich nicht hin zu ihr. Sie mögen selbst gehen, und den Sturm aushalten. Hier ist das Paket!“
Marie griff zu und drehte sich um, sich wortlos zu entfernen. Das lag aber nicht im Plan dieser Dame.
„Halt!“ rief sie. „Bleiben Sie noch! Der Schwester und Geliebten von Dieben darf ich das nicht allein anvertrauen. Es wird jemand mit Ihnen gehen, um dafür zu haften, daß nichts verloren gehe. Warten Sie also
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