Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
genommen habe. Ich erbat mir für sie eine Stellung bei der Frau Baronin von Helfenstein –“
    „Ah, bei dieser Dame! Dort ist sie also?“
    „Nein. Sie hat nicht gut getan. Man hat sie infolge dessen kaum einen Tag behalten können, dann wurde sie fortgejagt.“
    „Wohin?“
    „Ich brachte sie zu einer Verwandten von mir, einer frommen, Gott wohlgefälligen Seele. Sie hat ein Herz wie der Apostel Nathanael und wird das Mädchen zu retten suchen.“
    „Davon spreche ich jetzt nicht. Aber ich muß die Marie Bertram sprechen. Ihr Bruder ist als Dieb und Einbrecher bei uns inhaf –“
    „Das ist er auch! Ein Dieb und Einbrecher!“ fiel der fromme Vorsteher der Gesellschaft der Seligkeit eifrig ein.
    „Wirklich? Meinen Sie?“
    „Ja, gewiß!“
    „Wieso? Haben Sie Beweise?“
    Seidelmann wurde ein wenig verlegen und antwortete:
    „Beweise? Nein, Herr Assessor! Das heißt – hm!“
    „Nun? Sprechen Sie!“
    „Erstens ist der von Gott abgefallene Mensch zu allem fähig. Und die Familie Bertram war abgefallen!“
    „Und zweitens?“
    „Zweitens? Hm! Oh!“
    Er blickte auf den Boden nieder, wiegte die Achseln leise hin und her und sagte dann, auf Matthesius deutend:
    „Herr Assessor, der Herr Pastor hier ist ein ausgezeichneter und pflichteifriger Hirte seiner Herde. Er wird ihnen sagen, daß es einem wahren Christen schwerfallen muß, der Ankläger einer Seele zu sein, nach welcher der Teufel die Hand ausstreckt.“
    Der Untersuchungsrichter machte eine Bewegung der Ungeduld.
    „Lassen wir jetzt diese theologischen Erörterungen!“ sagte er. „Haben Sie vielmehr die Güte, mir zu sagen, was Sie mit Ihrem ‚Zweitens‘ meinten!“
    Der Fromme machte das unschuldigste Gesicht von der Welt und antwortete:
    „Die Familie arbeitete nicht.“
    „Ah! Ich dachte, der Sohn habe geschrieben?“
    „Ja, aber nichts verdient. Daß er Kopist sei, war nur der Deckmantel seines sonstigen Treibens!“
    „Welchen Treibens?“
    „Das ist Sache des Untersuchungsrichters. Ich aber weiß, daß Robert Bertram zuweilen ganz plötzlich über bedeutende Summen verfügte, nachdem er vorher nicht einen Pfennig gehabt hatte.“
    „Woher wissen Sie das?“
    „Ich bin Administrator der Wohnung, welche die Familie inne hatte. Das Haus gehört dem Herrn Baron von Helfenstein.“
    „Sagen Sie mir einen konkreten Fall!“
    „Nun, beim letzten Zins bat mich die Familie himmelhoch um Nachsicht, und doch zahlte der Sohn, als ich darauf drang. Ich bemerkte, daß er eine ganze Tasche voll Geld hatte.“
    „Hm! Das ist sehr wichtig. Sie werden mir erlauben, Ihre Aussagen zu Protokoll zu nehmen. Aber jetzt nicht. Ich bin beschäftigt. Ich werde Sie bestellen. Wie ist die Adresse dieser Marie Bertram? Ich muß sie in einigen Stunden bei mir sehen.“
    „Sie wohnt, wie ich bereits sagte, bei einer Verwandten von mir. Am einfachsten ist es, ich bringe sie Ihnen her, Herr Assessor.“
    „Gut! Ich werde jetzt vielleicht zwei Stunden beschäftigt sein. Dann aber erwarte ich sie. Adieu!“
    Der Fromme wurde entlassen. Er war sehr froh, die Adresse seiner ‚gottesfürchtigen Freundin‘ verheimlicht zu haben. Der Pastor Matthesius, welcher ja nicht bei der Leiche zugegen zu sein brauchte, entfernte sich ebenfalls mit ihm.
    Der Assessor begab sich zum Gerichtsdirektor und kehrte bald zum Arzt mit der Nachricht zurück, daß das Gesuch bestätigt worden und der Direktor selbst bereit sei, sich anzuschließen.
    Nach der Zeit von einer halben Stunde fuhren zwei Droschkenschlitten nach dem Friedhof. Dort stiegen der Direktor, der Assessor, der Gerichtsarzt und zwei Sicherheitsbeamte mit dem Gefangenen aus. Dieser letztere wurde nach der Halle geführt, in welcher die Leiche seines Vaters lag, nur mit einem Tuch zugedeckt.
    Er hatte ohne Sträuben seine Zelle verlassen. Er hatte im Schlitten gesessen wie einer, der abwesend ist, und starrte auch jetzt grad vor sich nieder. Sein Körper bebte vor Frost und Schwäche; er aber schien das nicht zu bemerken und zu fühlen.
    Die Herren traten mit ernster Feierlichkeit an die Leiche. Der Assessor wendete sich an den Gefangenen:
    „Bertram, wissen Sie, wo Sie sich befinden?“
    Der Gefragte antwortete nicht, ja, er hob nicht einmal den Blick zu dem Beamten empor.
    „Bertram“, fuhr dieser fort, „hören Sie denn nicht, daß mit Ihnen gesprochen wird?“
    Es folgte dasselbe Schweigen. Sie alle hielten die Augen auf den unglücklichen jungen Mann gerichtet, der in Ketten vor ihnen stand. Er

Weitere Kostenlose Bücher